866
48/13
Kgsb. den 9
Aug
85.
14
Meine gütigste Freundinn,
15
Ich habe nicht mehr als 2 Briefe seit Ihrer Abreise erhalten; den
ersten
16
durch Fuhrmann
Rehahn,
den ich gleich nach Empfang den 5
Julii
17
beantwortet; und den
letzten
vom 29
Julii
durch HE Motherby. Mehr sind
18
mir nicht zu Handen gekommen, und ich zweifele, daß Sie mehr an mich
19
geschrieben haben als diese beyde. Ich begreife daher gar nicht, wie Sie mir
20
die Frage thun können, ob ich einen Brief erhalten, auf deßen Antwort Ihr
21
letzter Brief eine Gegenantwort ist.
22
Sie thun gar nicht gut, daß Sie allein in der Stadt bleiben, und nicht an
23
der Gesellschaft Ihrer Frau Schwester auf dem Lande Antheil nehmen, und
24
zu Hause vor Ihrem Fenster an Ihre abwesende Freunde denken und die
25
langweilige Winter Sonnabende
anticipi
ren. Der Fall zwischen uns beyden
26
ist nicht so ähnlich, wie Sie sich einbilden. Sie haben, geliebteste Freundin,
27
Ihren Willen gekriegt, und sind unzufriedner als ich, der nicht seinen Willen
28
bekommen. Vielleicht würde es mir schlimmer als Ihnen ergangen seyn. Ich
29
bin ganz ruhig, schäme und gräme mich nicht, bin eben so gleichgültig als
30
heftig, nirgends und allenthalben zu Hause, kann aus nichts auf der Welt,
31
am allerwenigsten aus mir selbst klug werden, und mitten in der grösten
32
Verzweifelung genieße ich einen Frieden, der höher ist denn alle Vernunft
33
und so sicher wie Abrahams Schooß.
S. 49
Gestern kam HE
Sievert
aus
Pernau
mit einem Gruß von unserm Hinz,
2
der auch Ihren Namen auf seinen Bestellungs-Zedel aufgesetzt hatte, also
3
noch gar nicht weiß, daß Sie ihm so nahe sind.
Pernau
liegt gleichwol
4
weiter von
Riga,
als wir es damals berechnet, und ich zweifele, daß Sie diese
5
Reise thun werden – Sie müsten sich denn mit der dortigen Welt ein wenig
6
bekannter machen, um sie beßer wie jetzt beurtheilen zu können. Die
7
Ursachen, warum ich mich dem Umgange und den Gesellschaften entziehen muß,
8
finden bey Ihnen keine Statt. Haben Sie nicht den würdigen
9
Staabs
chirurgus Parisius
zu Ihrem Wirth auf dem Lande – oder ihn schon kennen
10
gelernt?
11
In Ihrem Hause ist meines Wißens Gottlob! alles wohl; doch davon
12
werden Sie nähere und zuverläßigere Nachrichten erhalten. Hänschen hat
13
vorigen Sonntag der Einseegnung der Fräul. beygewohnt. Er war mit
14
seinem gewesenen Hofmeister HE Scheller den 28
Junii
nach Pillau auf
15
einem Bierboot gefahren und kam
ersten
den 3
Julii
zu Hause; den 6
Julii
16
gieng er mit eben demselben u HE Jachmann zu Fuß nach
Trutenau
und
17
14 Tage hat er da Ferien mit HE Pf. Fischer und Familie in Graventhin
18
gehalten.
19
Hill hat mir den 20
pr.
voller Freuden über den Empfang der 18 #
20
gemeldet, daß er den 25 Wien verlaßen und über Weimar nach Hause kommen
21
wird. Er weis noch nichts von einem versiegelten Päckchen mit 17 #, das
22
meine gute Nachbarin die Loge der 3 Kronen mir am Tage ihrer
23
Johannisfeyer mit der Aufschrift:
dem Wanderer Hill
zugeschickt. Was für
24
große Augen wird er machen über meine
Lisette Reinette,
in der das
25
Mädchen kaum mehr kenntlich ist, der er auf dem Clavier und im Ital. die ersten
26
Anfangsgründe beygebracht, und die jetzt der guten Baroneße Freude und
27
Ehre macht, wie ich aus ihrem und anderer Leute Mund höre; denn ich sehe
28
sie selten, und sie kommt nur alle Monate einmal. Mutterchen ist sehr
29
vergnügt ihre Wäsche heute getrocknet zu haben; Lehnchen hat die Nachtwache
30
gehalten.
Marianchen hat einen schiefen Vorderzahn bekommen, den ich
31
wohl werde müßen ausreißen laßen, zur Strafe unserer und ihrer eigenen
32
Nachläßigkeit.
33
Das beste Buch was ich gelesen, sind eines ungenannten Schweitzers
34
Vorlesungen über das so genannte Neue Testament
, die ich
35
Ihrem HErrn Wirth u allen guten Freunden zu empfehlen bitte. Mit den
36
herzlichsten Wünschen eines glücklichen Widersehens von mir und den
37
Meinigen unter allem nur ersinnlichen Wohl – und mit grillenfängerischer
S. 50
Sehnsucht die 17 Tage meines 55sten Jahrs überstanden zu haben, ersterbe mit
2
alter Treue und Innigkeit
3
Ihr
4
ergebenst verpflichteter Freund, Gevatter
5
und Diener Johann Georg Hamann.
6
Adresse mit Mundlackrest (Kopf des Sokrates nach links):
7
à Madame / Madame Courtan, / née Toussaint / à
Riga
.
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 2.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 267 f.
ZH VI 48–50, Nr. 866.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
49/15 |
ersten ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: erst |
|
49/30 |
gehalten. ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: gehalten, |