872
66/26
Kgsb. den 18 Sept. 85.
27
Höchst zu Ehrender Freund,
28
HE. Scheller ist gestern nicht eingetroffen, statt seiner Person erhielt einen
29
Brief von ihm aus Petersdorf, den ich auf sein Verlangen heute dem HE.
30
Pf. Fischer mitgetheilt, weil er von dem hiesigen Fortgange seiner
31
Angelegenheit auch durch einen Expreßen im Nothfall Nachricht zu haben
32
wünscht, ich aber nichts davon weiß, auch alles in Erwartung, daß er heute
33
eintreffen wird, für überflüßig halte.
S. 67
Da die schlechte Witterung mich zu Hause hält, hab ich die 3 ersten
2
Predigten Zollikofers widerholt, um mein Vorurtheil theils zu berichtigen theils
3
mir selbst zu erklären. Sie beobachten mit Ihrer gewöhnlichen Feinheit, daß
4
der Beyfall mich ein wenig scheu mach
t
e und zum Widerspruch geneigt,
5
vielleicht gar zu einem heimlichen Neide. Diese
Qualitas occulta
meines
6
Mistrauens macht mich gleichwol auf keine Art unfähig diejenigen
7
Talente, auf die ich nicht den allergeringsten Anspruch machen kann und zu
8
denen mich die Natur oder mein eigenes Misverständnis derselben
mich
9
verschnitten hat, desto inniger zu bewundern und zu
untersuchen
erkennen.
10
Aber mein Geschmack ist einmal lieber gar nicht urtheilen, als nach dem
11
bloßen
Ansehen
der
Person
oder
Sache
.
12
Z. verbindt mit dem Reichtum seiner Sprache eine sehr glückliche
13
Oekonomie der Worte für den Verstand und das Herz. Die Schnur seiner Fragen,
14
Ausruffungen und Redefiguren ist voller Licht und Wärme für die
15
Einbildungskraft. Sein Mechanismus ist voller Symmetrie. In seinen Gebeten,
16
Abtheilungen und Anwendungen ist Einheit und künstliche Beziehung. Diese
17
Schönheiten und Energien sind so sichtbar und so sinnlich, daß nur ein Blinder
18
und Tauber selbige leugnen oder in Zweifel ziehen kann; aber eben so wenig
19
die
Tavtologien
und Einförmigkeit, und daß ich selbige mit einer
20
ebenmäßigen Genauigkeit und Evidentz fühle, und ein wenig abergläubisch die
21
evangel. Armuth und Einfalt den
Ethnicismis
und ihrer
Polylogie
im Beten
22
und Lehren unendlicher und inniger vorziehe; weil ich für Wahrscheinlichkeit
23
weniger reitzbar bin als für Wahrheit. Die Wahl des Textes fiel mir gleich
24
auf, und die Kühnheit gefiel mir – weil man, wie Morus sagt, von keinem
25
einzigen Menschen, auch nicht vom ganzen menschl. Geschlechte sagen
26
kann im strengsten und eigentlichsten Verstande, daß ihm die ganze Natur
27
unterworfen gewesen sey, als von dem einzigen
Individui
und Ideal,
28
worauf ein gewißer Lehrer der Heiden diese prophetische Stelle gedeutet. Wenn
29
auch der Sprachgebrauch es einem Redner erlaubt von jedem Unterthanen
30
zu sagen was das eigentliche
Prädicat
des Fürsten und Monarchen ist: so
31
besteht doch der Grund des Christentums oder die Form deßelben nicht in
32
einem bloßen Sprachgebrauch.
33
Die Frage des Kämmerers: Von wem redt der Psalmist
solches
? ist
34
doch wenigstens einem andächtigen Leser erlaubt – wenn gleich der
35
andächtige Zuhörer des Predigers Fragsucht gedultig aushalten muß und die
36
wenigsten
s
richtig zu
be
antworten kaum im stande sind
ist
.
37
Ist in diesem Fall vom Menschen überhaupt die Rede: so verlier ich fast
S. 68
allen Sinn und Zusammenhang; weil ich gar nicht begreifen kann, daß
2
unserer Natur dadurch Leid geschehen, daß selbige etwas geringer als der Engel
3
oder Götter ihre gerathen, und daß der höchste Gott diesen geringen
4
Abbruch, oder eines Sterbl. Murren darüber gut gefunden hätte mit Majestät
5
zu krönen. Ich weiß wol, daß Hiobs Beschwerden gerechter in Gottes Augen
6
waren als seiner Freunde Theodiceen – aber dies konnte keinem Zuhörer
7
einfallen, weil keiner den Brief an die Hebräer scheint gelesen zu haben, wo
8
dieser Spruch auf eine gantz andere Art ausgelegt wird.
9
Die erste Predigt ist also im Grunde nichts anders als ein sehr
10
schmeichelhaftes und gefälliges Gemälde von der Würde unsere
s
r Verstandeskräfte,
11
unserer moralischen Freyheit, unserer Thätigkeit und Perfectibilität,
12
unserer Unsterblichkeit, woran
der
kein Autor zweifelt, von unserer Originalität
13
bis auf die Physiognomie.
14
Ueber alles dieses wird in der zweyten Predigt
per arsin
wider eben so
15
viel geredt – und in der dritten Predigt erscheint das alte Kleid noch einmal
16
mit einigen Lappen des Christentums ergänzt und aufgestützt. Sollte aber
17
wirklich das Christentum auf so eine Flickerey unsers Verstandes, Willens
18
und aller übrigen Kräfte und Bedürfniße bis auf die Scherben unsers
19
Schatzes hinauslaufen – und die Hauptsache auf einige religiöse Theorien
20
und Hypothesen berufen. Ist das die Verheißung
alles
neu zu machen, –
21
einer Geistes- und Feuertaufe mit neuen Zungen.
22
Dergl. Predigten sind schmackhaft für Gesunde, die einen Koch nöthig
23
haben, aber nicht für Kranke, denen mehr mit einem Artzt gedient ist. Wenn
24
du ein Mal machst, so lade die Armen, die Krüpel, die Lahmen, die Blinden.
25
Auch nach meinem Geschmack ist Z. eine natürlich warme und klare
26
Qvelle, aber nicht mehr unter den Händen derer, die aus selbiger schöpfen
27
oder wol, gar wider von sich geben – und die plausibelsten Irrthümer sind
28
immer die nachtheiligsten.
29
Unsere Würde hängt nach beßern Begriffen nicht von Verstand, Wille,
30
Thätigkeit – sondern bleibt das Geschenk einer höheren Wahl – nicht mehr
31
ein angebornes, sondern erworbnes – auch nicht selbst erworbenes noch
32
selbstständiges – sondern schlechterdings abhängiges, und eben dadurch desto
33
festeres und unbewegliches Verdienst. Alle Herrlichkeit der Menschen ist wie
34
des Grases Blumen – aber des HErrn Wort bleibt in Ewigkeit.
Recht zu
35
theilen
das Wort der Wahrheit, und nicht zum bloßen Motto einer
36
geistlichen Rede zu machen, gehört zum Fleiß eines rechtschaffenen und
37
unsträflichen Arbeiters.
S. 69
Es thut mir immer wehe, den lächerlichen Nachahmungsgeist, der immer
2
die schwächsten Seiten guter Köpfe verfolgt, ihnen mit seiner Bewunderung
3
schädlicher und gefährlicher zu sehen, als alle Furien des Neides, oder
4
ungerechter Kritik.
5
Doch weder Tadel noch Lob ist
Urtheil
, sondern bisweilen ein bloßes
6
argumentum ad hominem
– eine Recension
in nuce,
die über den Werth
7
eines Buches nichts entscheidet. Zur Strafe meiner bösen Laune will ich alle
8
noch übrigen 14 Predigten von neuem lesen – und zur Schadloshaltung lege
9
ich meinem Geschwätz das
Memoire
des
Mirabeau
bey, welches ich heute
10
erhalten.
11
Haben Sie schon des HE von Elditten
Betrachtungen über das
12
Fundament der Kräfte
gelesen? Ich habe den Verf. noch auf der
13
Akademie gekannt, wie ich noch in die Schule gieng. Sein Hofmeister war ein
14
gewißer Belger, ein Landsmann meines seeligen Vaters, der in unserm Hause
15
stark verkehrte, und den ein Herr von Canitz wahrscheinl. als seinen
16
natürlichen Sohn ins Land brachte. Jetzt ist wider ein junger Elditten auf der
17
Akademie, deßen Vater ist also ein Domherr in Magdeburg; der die paar Bogen
18
geschrieben, hat seine Güter nahe an Barthen und Wickerau gehört, wo ich
19
nicht irre, dazu.
20
In der Familie des
Mirabeau
sollen schreckliche Dinge vorgegangen seyn.
21
Des Grafen Mutter soll auf ihren Todebette einmal über das andere
22
ausgeruffen haben:
il n’y a pas de Dieu!
und hat mit Wuth ihrem Mann
23
zugeschrie
b
en:
Dis donc qu’il n’y a pas de Dieu!
24
Das
Memoire
bitte mir vorzüglich und durch eine Gelegenheit von
25
Friedrichsthal wider zurück; mit den übrigen 3 Büchern hat es desto längere Zeit.
26
Hartung soll sehr vergnügt über ein
Mst.
zum Verlage seyn, das er von
27
einem gewißen Philosophe
inconnu et pseudonyme Fabriccius
erhalten,
28
von dem Sie vielleicht mehr wißen als ich.
29
den 19.
30
HE Scheller ist noch nicht hier – diesen Augenblick kommt sein gewesener
31
Eleve, und wird morgen früh abgehen, ohne etwas von der fehlgeschlagenen
32
Erwartung zu wißen. Von dem
Journal
von und für Deutschland, deßen
33
erste Stücke ich nur gelesen, ist mir heute unvermuthet das 2 te dieses Jahrs
34
in die Hände gefallen wegen eines
Pro Memoria
von Dohna die Censur des
35
Cranzen betreffend an den Kgl. Staatsrath – Mehr Vergnügen hat mir
36
gemacht die Fortsetzung einer Reisebeschreibung durch Elsaß, Lothringen – als
37
neue
Relique
von unserm Vetter Becker. Ich erkannte ihn an einer Anekdote,
S. 70
die er mir selber erzählt, ohne mich besinnen zu können
wo
? gehört oder
2
gelesen zu haben, bis ich von meinem Sohn auf die Spur gebracht wurde.
3
Ich habe noch so viel weite Gänge, daß ich kaum vor Abend damit fertig
4
zu werden denke – und mehr als zu viel geschrieben auf Abrechnung –
5
In Ansehung des Museums bitte nach
Bequemlichkeit
halb oder
6
gantz oder nach Jahrgängen mitzutheilen, weil ich nur das wenigste aus sehr
7
wenigen Bänden nöthig habe, ohne eigentlich es bestimmen zu können – und
8
das übrige nur übersehen will.
9
Ich habe die Ehre nach meinen ergebensten Empfehlungen
incl.
Johann
10
Michel zu seyn ganz der Ihrige
11
J. G. Hamann
Provenienz
Druck ZH nach dem überlieferten Typoskript Walther Ziesemers. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Preußisches Staatsarchiv Königsberg, Nachlass Johann George Scheffner.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 283–288.
ZH VI 66–70, Nr. 872.