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Liebster Freund u. Gevatter.
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Ich schäme mich, daß ich die Bitte Ihres guten
Hills
nicht habe erfüllen
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u. seiner Ankunft mit einem Briefe zuvorkommen können: denn jetzt ist er
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wahrscheinl. längst zu Hause. Er hat uns angenehm überrascht u. durch sein
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gutherziges, unbefangenes Wesen viel Freude gemacht; zumal den Kindern,
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denen er diesem einen Italienischen Gruß, jenem ein ander Wort in den
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Mund gebracht u. sie dadurch recht
glückl.
gemacht hat. Er wird nun bei
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Ihnen seyn u. Ihnen die
Abentheuer
seiner Reise erzählt haben.
m
Mir
S. 79
thuts leid,
daß
da er einmal so weit war, er nicht Spanien oder Orient hat
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sehen können; jetzt bleibt bei ihm der Funke dieses Feuers u. ich denke, daß er
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über Jahr u. Tag wieder Reisaus nehmen wird. Je früher dies geschieht,
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desto beßer: denn er ist zu einem Apostolischen Reisenden gemacht u.
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Fuß-Pilgrime
, die einmal zu Rom gewesen sind, pflegen nachher wenig Sitzfleisch
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für ihr Vaterland zu haben. In der That, ich wünsche ihm diese Reise u.
7
eine
die Gelegenheit einer Condition in Cur- oder Liefland, sich zu ihr
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etwas zu sammlen; der erste Ausflug ist bei einem jungen Menschen seiner
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Sinne u. Lebensart nur Rausch oder Traum gewesen; er hat aber jetzt
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Erfahrungen gnug gemacht, eine zweite beßer anstellen oder wenn ihm darinn
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das Glück zuwider ist, die erste mit der Zeit nutzen zu können. Seine
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Erzählung, Geschmack u. ganzes Daseyn hat mich an so viel Kleinigkeiten meines
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lieben Sarmatischen Vaterlandes erinnert, daß ich in Gedanken selten an
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dem Ort war, wohin er mich führte. Grüßen Sie ihn von uns allen aufs
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beste: es möge ihm recht wohlgehn, damit er sein Italien vergeßen u.
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verschmerzen lerne. Der
Nuncius Apostolicus
war nur ein Vorbote von einer
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Reihe anderer Besuche, die erst jetzt geendigt haben. Der Prinz August von
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Gotha war 4. Wochen hier: während dieser Zeit kam auf ein paar Tage der
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junge
Forster
, der eine Tochter des Hofr. Heine geheirathet hat u. seine
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junge Frau nach Wilna
führet.
Mich dünkt, seine zu frühe Reise nach dem
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Südpol hat dem Keime seiner Gesundheit u. seines
Wn
Gliederbaues etwas
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geschadet, daß er sich schwerlich zu einem Mann entwickeln dörfte, der an
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Seelen- u. Leibeskräften
sei
werde, was sein Vater gewesen. Uebrigens ist er ein
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gutherziges, gelehrtes Männchen, der sich in den meisten Wißenschaften selbst
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zu etwas durchschlagen müßen, das ihm denn viel Mühe gemacht hat. Bald nach ihm
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kam noch unerwarteter die Fürstin Gallizin mit ihrem Gefolge, die
8
9 Tage
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hier gewesen u. seit dem vorigen Dienstag weg ist. Ein sonderbares Wesen!
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Voll Känntniße in u. aus allen Wißenschaften, deren keine sie äußern mag;
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wenigstens ist sie bei uns fast die ersten 7. Tage über sehr verschloßen
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gewesen: sanft
u.
nachgebend u. doch von dem vestesten Muth u. Willen bei
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dem kleinsten u. größesten Anlaß: eine Frau, die die kleine u. große Welt in
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ihren Seen u.
kleinen
Bächen gekostet hat u. jetzt in einer simpeln Tracht,
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die durch sich selbst dem Hofe u. allen Puppengesellschaften unzugänglich
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geworden ist, sich in der Erziehung ihrer Kinder u. dem Cirkel ihrer Freunde
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selbst eine Quelle des Genußes bereitet u. f. Der gewesene Minister
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Fürstenberg, Hemsterhuis u. Sprickmann waren mit ihr, die
Sie
sie
alle zu
S. 80
führen scheinet: ein
quat
t
ro,
das nie müßig, nie mit einander verlegen u.
2
sich selbst so gnug ist, daß der Fremde bei ihnen immer nur
advena
u.
hospes
3
scheinet. Fürstenb. ist ein Mann von Känntnißen u. vieler Welterfahrung:
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nur da alles dieses auf einen Domherrn gepflanzt oder von ihm erworben ist,
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so bleibt bei ihm, wie eben auch beim Statthalter in Erfurt, der Domherr
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immer etwas durchblickend; dagegen Hemsterhuis auch in seinem ganzen
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Wesen ein alter, feiner, reicher, stiller Republikaner ist,
der
ich möchte sagen,
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nach der Weise eines feinsammlenden Holländers alles Schöne der
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Wißenschaften u. Künste in
und
um sich gesammlet zu haben scheint, dazu er reichen
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konnte. Die Wahrheit zu sagen,
hat
ist Er mir in der Gesellschaft der
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intereßantsche
gewesen, ein volles aber stillliegendes Gefäß voll lieblichen Weins,
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das sanft
hergiebt
wo man es anbohret. Ich möchte eine Zeitlang ihm in der
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Nähe leben u. insonderheit das Band einer ganz gemeinschaftl. Sprache
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haben: denn da er nur Französisch spricht, so entfliehet mir schon, wenn ich
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die Sprache auf die Lippen nehme, das Beste, was ich sagen wollte. Sprickm.
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ist auch ein sehr braver Mensch, ein runder Westphäler, der im Stillen seinen
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Gang zu gehen scheinet. Sie können leicht denken, liebster H., daß eine solche
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reisende Gesellschaft, zu der ich noch
den
2. Kinder der Fürstin u. ihren
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Sekretär zu setzen
haben)
mehr Schauspiel dadurch wird, was die
Geselle
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Glieder einander unter sich sind, als daß sie sich in so kurzer Zeit entzweien u.
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fremden Personen mittheilen könnten: daher ich über Vieles u. das Meiste,
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das die Fürstin Gallizin angeht, jetzt so klug
bin
als ich war u. froh bin, daß
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wir uns einander gesehen, bewillkommt u. verabschiedet haben. Sie muß eine
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Frau von außerordentl. Wirkungskraft in ihrem Kreise seyn; ob mir wohl
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die Grundsätze ihrer Erziehung, so
weit
viel ich davon zu sehen bekommen
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habe, nicht völlig einleuchten: eben also auch die innere Selbstständigkeit
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ihres Daseyns hielt sie wahrscheinl. zurück, sich uns zu offenbaren, ob wir
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wohl tägl. beisammen waren. Buchholz kennt sie sehr gut
u.
spricht von
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ihm u. seiner jungen Frau, die auch aus Münster ist, alles Gute
s
u. Liebe.
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Verzeihen Sie die lange Gallerie von Zeichnungen, die Ihnen vielleicht
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nichts zeichnen, welches ich daraus spüre, daß sie mich selbst nicht befriedigen;
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es liegt aber mit an der Sache selbst u. einige Nachricht wollte ich Ihnen
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doch geben. Unsres Jac. Spinozism. oder Anti-Spinoz. werden Sie hoffentl.
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empfangen haben; wahrscheinl. wird er weder Spinoz. noch Antispinoz.
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befriedigen u. im Grunde muß ich wie Mend. sagen, daß je mehr er erklären
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will, sich desto mehr die Sache von mir entferne. Das
πρωτ. ψευδ.
scheint
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mir zu seyn, daß er zu sehr nach literar. Vorstellungsarten jagt, auch wo die
S. 81
Natur ihm den innern eigenthüml. Quell nicht gewähret: das
δευτ. ψ.
ist,
2
daß er von zu
verschiednen
Menschen u. Freunden Eindrücke annimmt, die
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seine Seele nicht verbindet; eine Folge vom ersten. Der Ball ist jetzt so
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verflochten
u. kraus hingeworfen, daß ihn auflösen mag, wem’s beliebet. Ob
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mein Buch (Th. 2. Id.) Ihnen zu Händen gekommen sei, weiß ich nicht; ich
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habe nach
Lpz.
geschrieben, wohin es Schlegel
aus
in Erfurt, der
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Buchdr., während meiner Abwesenheit im Karlsb. spedirt hatte, daß es mit
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den zu versendenden Ex. eilig spedirt würde; habe aber keine gescheute
9
Antwort erhalten, an wen es spedirt
h
worden. Also wenn Sies noch nicht
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haben, bitte ich gar sehr, in Ihren beiden Buchhandlungen sich deßhalb zu
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befragen. Es ist ein
Unglück
daß alles was Hartknoch dient u. ihn angeht, so
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elend besorgt wird, woran wohl seine weite Entfernung u.
zu
an
unrechten
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Orten seine mürrische Sparsamkeit Schuld seyn mögen. Dergl. Versendung
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an Sie u. Zurückbleiben des Drucks soll nicht mehr paßiren; schreiben Sie
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mir also, bester lieber Fr. u. Landsm., sobald Sie es erhalten haben. Es
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dünkt mich ein Jahr 100. seit ich nichts von Ihnen gelesen oder gehört habe.
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Vale, Vale.
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Gott sei mit Ihnen u. Ihrem Hause. Wir grüßen Sie sämtlich u. meine
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Kinder die Ihren, besonders den braven Johannes herzl.
Provenienz
Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 34).
Bisherige Drucke
Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 219–221.
ZH VI 78–81, Nr. 875.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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78/31 |
glückl. ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: glücklich |
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78/32 |
Abentheuer ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Abendtheuer |
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78/32 |
m Mir ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: mir Mir |
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79/1 |
daß ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: daß, |
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79/5 |
Fuß-Pilgrime ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Fuß | Pilgrime |
|
79/20 |
führet. ]
|
Geändert nach der Handschrift; in ZH mit Absatz dahinter. |
|
79/30 |
u. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: und |
|
80/7 |
der ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: der, |
|
80/9 |
und ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u. |
|
80/11 |
intereßantsche ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: intereßanteste |
|
80/12 |
hergiebt ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: hergiebt, |
|
80/19 |
haben) ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: habe, |
|
80/22 |
bin ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bin, |
|
80/28 |
u. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: und |
|
81/2 |
verschiednen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: verschiedenen |
|
81/4 |
verflochten ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: verflochten, |
|
81/6 |
Lpz. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Leipz. |
|
81/11 |
Unglück ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Unglück, |
|
81/12 |
zu an ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: an |