881
92/22
Pempelfort den 13
ten
Oct.
1785.
23
Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):
24
Erhalten den 26
Oct.
Geantw – bis zum
30
No
15.
25
Heute Mittag, mein InnigstGeliebter, erhielt ich Ihren sehnlich
26
erwarteten
Brief,
u habe mir recht wohl dabey seyn laßen. Jetzt will ich Ihnen das
27
wenige was ich von Buchholtz weiß, und was ich über den Ihrem
28
Oberburgermeister attribuirten Brief zu sagen habe, noch geschwinde mittheilen.
29
Von Paris ist Buchholtz schon lange weg, u hat sich seit dem in Lyon
30
aufgehalten. Die Prinzeßin schrieb mir unter dem 14
ten
Sept aus HofGeismar:
31
„Von Buchholzen u seiner Frau habe ich hier 3 Briefe hinter einander
32
erhalten. Sie waren bisher in Lyon u sind nun, seit dem
3
ten
–
dieses Monaths von
33
dort zu Lavatern hin abgereist. Gegen Ende October werden sie wieder in
S. 93
Münster seyn. Uebrigens sind sie fröhlich u glücklich
miteinander
.“
– Den
2
12
ten
Sept schrieb mir Lavater aus Zürich:
„Buchholtzen u seine Frau
3
erwart’ ich in 10 Tagen hier.“
Mehr weiß ich nicht v den lieben Leuten. Sie
4
haben in dem was Sie Buchholtzen schrieben gar nicht Unrecht gethan, u ich
5
kann auch in der Form nichts unartiges finden. Unser Freund ist auch ganz
6
der Mann dergleichen aufzunehmen wie man soll.
7
Nun zum andern Punkte. Wenn ich Ihnen gerade zu geschrieben habe,
8
ich hätte von Hippeln einen Brief erhalten, so habe ich mich unvorsichtig
9
ausgedrückt. Was ich sagen wollte war folgendes:
10
Hippel ist Verfaßer der Lebensläufe;
11
Der Verfaßer der Lebensläufe hat an mich geschrieben:
12
ergo,
hat Hippel an mich geschrieben.
13
Q. E. D.
14
Mein
Minor
folgt in Person hiebey. Meinen
majorem
wünschte ich
15
Ihnen auf dieselbige Weise probieren zu können, denn ich habe ihn aus
16
Herders Munde, u zwar mit solchen Umständen, daß wenn er nicht richtig
17
wäre, Herder gerade zu gelogen haben müßte. Das hindert aber nicht, daß
18
auch Scheffner an dem Buche gearbeitet haben kann, u so ist es auch wohl
19
möglich, daß er u nicht Hippel Verfaßer des einliegenden Schreibens sey.
20
Nur bleibt es höchst unwahrscheinlich, daß Hippel gar nichts v der Sache
21
wißen sollte. Melden Sie mir doch bey Zurücksendung des Briefes, was Sie
22
von der Sache denken. Ich sende
ihn
den Brief mit dem Umschlage, ob
23
etwa das Siegel einige Auskunft geben könnte, weswegen ich es auch
24
verwahrt habe, weil ich damahls noch gar keine Nachricht v dem Verfaßer
25
hatte. Verschweigen Sie aber die Mittheilung, damit weder Hippel noch
26
Scheffner ungehalten auf mich werde.
27
Daß Sie meine Schrift durch Kants Hände haben gehen laßen, ist mir
28
überaus angenehm, u Sie werden mich ungemein verbinden wenn Sie mir
29
mehr u bestimmteres von seinen Urtheilen darüber melden wollen. Sie
30
schreiben
„Aus dem System des Spinoza hat er nie einen Sinn ziehen können – u
31
mit
Kl
Kraus ein langes u breites darüber gesprochen, der aber ihre
32
Schrift noch nicht gelesen hatte.“
Ich möchte wißen in wie weit Kants
33
Bekenntniß seines Unvermögens sich auf meine Schrift bezieht. Mit nächstem
34
Postwagen schicke ich noch 3 Exempl: 1 gebundenes für Sie, 1 für
35
Scheffner, u 1 für den
Accise
Einnehmer Brahl. Daß letzterer (von dem ich
36
daraus, daß Sie sein Freund sind, eine gute Meynung faßen muß) unter Ihrer
S. 94
u noch eines Ihrer Freunde Aufsicht das Buch
de l’ordre de Cincinnatus
2
übersetzt, macht mir eine große Freude, u hat den Gedanken in mir erweckt,
3
daß eben dieser wackere Brahl auch wohl das Buch
sur la vie et les
4
ouvrages de Turgot
übersetzen könnte. Ich will ein Exemplar davon nächsten
5
Posttag mitschicken. Die Nachricht, daß
ich
es übersetzen wolle, rührt v einem
6
meiner Freunde, dem Grafen v Sickingen her, der dadurch meinem
guten
7
Willen
die
Nöthigung
beyzufügen meynte.
Das Gerücht
Darum ist
8
auch das öffentliche Ausschreien dieser Nachricht durch einen
Chemiker
9
(Crell) verrichtet worden, welches drollicht genug war. Es wäre gut, wenn
10
für uns Deutsche dem Buche eine etwas andre Form gegeben würde. Die
11
theils kleinen, theils
unpersönlichen
Umstände von Turgots Leben
12
müßten abgesondert werden, u gewiße
details
seines Ministerii wieder. So
13
zerfiele das Buch in 3 Theile, u der große Mann stünde reiner u natürlicher
14
da. Der französische
redacteur
ist ein gewißer
du Puy,
deßen Geist gar nicht
15
dazu gemacht war die organische Kraft eines solchen Stoffs zu werden. –
16
Laßen Sie, liebster Hamann, meinen Vorschlag Eingang finden, wenn es
17
immer möglich ist. Sie höben mir würklich einen Stein vom Herzen.
18
Die Sternchen S 174 meiner Schrift heißen Reimarus. Er ist der Bruder
19
der Elise u der Sohn des Verfaßers der Fragmente;
doctor med.
zu
20
Hamburg, u ein sehr gelehrter Mann. Das ausgelaßene
durch
S 14 ist
21
vermuthlich ein Schreibfehler, denn ich erinnere mich, daß mein Bruder vor
22
2 Jahren mir ihn anzeigte. Desto sonderbahrer daß ich ihn nachher doch
23
übersehen habe. Das
von
S 48 ist weder Schreibfehler noch Druckfehler,
24
sondern eine Bestialität meines Ohrs, das mich öfter auf diese Art zum
25
Besten hat, u über Verstand u Grammatik triumphiert. Ich hätte schreiben
26
sollen: „u ich stehe dafür, daß sie auch Leßings Leute nicht waren.“ Das
von
27
sollte den Genitif vertreten, wie es zuweilen thut.
28
Mein Ohr erinnert mich an Reichardt, der Ende Sept hier seyn wollte,
29
u nun den Winter in Paris bleiben wird, um für das dortige Theater 2 große
30
Opern zu schreiben. Am 30
ten
Sept hat er mir v dort aus geschrieben. Ich
31
habe gleich geantwortet, u in meiner Antwort auch Ihrer gedacht.
32
Hill ist nun ganz gewiß bey Ihnen. Den 11.
ten
Sept schrieb mir Goethe
33
daß er zu Weimar wäre; u in einem Briefe v 16.
ten
Sept gedachte auch
34
Herder seiner. Daß Letzterer Sie so lange auf den 2.
ten
Theil der Ideen warten
35
läßt, oder ließ, ist nicht fein, ob er gleich sonst beynah zu viel
Cultur
36
bekommt. Sagen Sie mir doch so viel als Sie mögen, v dem Eindrucke dieses
37
2.
ten
Theils auf Sie. Er enthält ungemein viel vortreffliches, aber wie ich
S. 95
schon neulich schrieb, ein gewißes durcheinander von Physik u Theologie, von
2
Pantheismus u Deismus will mir nicht gefallen – „da sahen die Kinder
3
Gottes nach den Töchtern der Menschen, wie sie schön waren, u nahmen zu
4
Weibern welche sie wollten.“ 1 B. Mos.
VI.
2.
5
Das schlimme Wetter hat uns auch hier viel zu schaffen gemacht, aber so
6
schlimm wie bey Ihnen ists doch nicht gewesen. Mir ist das Stürmen mehr als
7
alles zuwider, u es macht eine fürchterliche Würkung auf meine Nerven. Die
8
Natur kommt mir dann vor als wenn sie betrunken wäre, u suchte Händel.
9
Solch ein Stürmen hatten wir vor 14 Tagen, u ich habe 2 Bäume dabey
10
eingebüßt. – Wenn Ihnen heitere Stunden kommen; so denken Sie an mein
11
Problem. Was Sie mir v dem gefundenen Schlüßel sagen, hat meine
Be
12
Wißbegierde auf den höchsten Grad
gespannt. –
Vergeßen Sie auch nicht
13
meine Anfrage wegen Kant, „daß er nie aus dem System des Spinoza
14
einen Sinn hat ziehen können“ – u laßen Sie mich überhaupt so viel es
k
15
geschehen kann erfahren, in was für Funktionen er sein Gemüth über dieses
16
=
X
ferner hat gerathen laßen. GegenGruß u Kuß an Hippel. Sie werden
17
v seinem Urtheil u Scheffners mich doch auch etwas erfahren laßen. – Was
18
zur Geschichte meiner Schrift gehört sollen Sie alles genau erfahren. – Von
19
den Berlinern erwarte ich das Schlimmste, u alle Schliche, welche der dort
20
herrschende Geist der
piae fraudis,
nur ersinnen kann.
Dem
Nach den
21
letzten Stücken der dortigen Monatsschrift, muß ich sogar erwarten, daß sie
22
mich
für
als einen Martinisten, Papisten u Lavaterianer sörglich warnend
23
angeben werden. Etwas Furcht vor meiner nicht scheuen Feder möchte sie
24
vielleicht noch mäßigen. – Und hiemit genug für heute. Ich verlaße mich auf
25
Ihr Versprechen, daß, wenn Sie aufgelegt sind u was zu schreiben haben,
26
nicht saumselig sein wollen. – Grüßen Sie unsern Joh. Michel u Ihre
27
Töchter, deren Alter ich mir auch zu melden bitte. – Ich umarme Sie, Liebster,
28
Bester, von ganzem Herzen –
29
Ihr Fritz Jacobi
30
Adresse:
31
An den Herrn / J. G. Hamann / zu / Königsberg /
frco
.
32
Vermerk von Hamann:
33
den 26
Oct.
85. / geschrieben v 22
Oct
– 30
Dom
XXIII.
Dem Brief lag ein anonymes Schreiben von Theodor Gottlieb Hippel an Jacobi bei (vgl. HKB 881 [VI 93/22]), das heute verschollen ist (vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 3: 1782–1784. Hg. von Peter Bachmaier, Michael Brüggen, Heinz Gockel, Reinhard Lauth und Peter-Paul Schneider. Stuttgart-Bad Cannstadt 1987, 99). Hamann fertigte eine Abschrift der Beilage auf der Rückseite des Adressblattes an (Provenienz: Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035). Der Brief lautet in Hamanns Abschrift:
S. 549
Ihre Anwerbung, Hochgeschätzter Herr und Freund, hat alle Eigenschaften
2
eines Liebesbriefes, ists Wunder daß sie auch die nemlichen Folgen
3
bewirkte: Unruhe und Freude. Wär ich eine Braut, der die Zeit zu lang
4
geworden und die, um sie sich zu vertreiben die Söhne des Landes zu
5
besuchen ausgelaufen; so müsten Sie meine späte Antwort übeldeuten. Jetzt
6
aber da ich Oel zu meiner Lampe in Bereitschaft hatte, hielt ichs fürs
7
beste nicht eher zu antworten und Ja zu sagen als bis Sie mich näher
8
kennen zu lernen Gelegenheit gehabt. –
9
Jetzt haben Sie wie ich wünsche auch des 3
ten
Theils 2 ten Band beherziget,
10
und mir kann ich fragen: Sind Sie noch entschloßen Ihr vorläufig auf die
11
Bekanntschaft des ersten Theils gegebenes Wort zu halten? und mit diesem
12
Buche zu ziehen? Im Neinfall werden Sie Ihre Ursachen haben, und das ist
13
gnug. Ich war schuldig Ihnen zu beweisen, daß ich nur bey Ihrem Antrage
14
keine Sprödigkeit einfallen laßen, und diese Schuld wäre also berichtigt. –
15
Warum länger in der Allegorie?
16
– Sie denken und empfinden, das haben Sie bewiesen und mehrere Prämißen
17
bedarf es nicht, um meiner Seits annehmen zu können, daß Sie den Geist,
18
der mich bey diesem Buche getrieben, nicht verfehlt haben, den so viele
19
verfehlen –
20
Allerdings hätte die
Hauptsache
dieses Buchs auch anders behandelt
21
werden können, allein es bleibt die Frage: ob zu unserer Zeit eine andere
22
Behandlung so heilsam gewesen als die, so ich einschlug?
23
Wenige, wahrlich wenige, würden meine eigentliche Absicht tragen, wenn
24
ich sie gerade zu eröfnet hätte. Uebrigens bin ich ein Todfeind vom leeren
25
Witz und gleich leerer Speculation. Diese Todfeindschaft zwischen der
26
Schlange und dem Weibe ist die Triebfeder, welche verschiedene Räder
27
in diesem Buche in Bewegung gesetzt hat – Auf diese Rechnung gehören
28
auch Styl, manche Einschellung und Wendung. – – Mein Plan ist zwar
29
unterbrochen, allein für einen Mann wie Sie ist überall Lichte – ich
30
schreibe diese Antwort in einer heitern Stunde, nachdem ich viele Tage
31
der Prüfung erfahren, wo Krankheit und andere angreifende Vorfälle meine
32
Seele betrübten. –
33
Gott unser Vater laß es Ihnen wohl gehen. Bleiben Sie mein getreuer Freund –
34
ich bin
der Ihrige mit dem redlichsten Herzen
35
Hr.
36
Mein Verleger wird Ihre Briefe gern annehmen und sie befördern.
37
An HE Friedrich Heinrich Jacobi
38
Curpfälzischer Cammerrath zu D.
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 83–85.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 113.
Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 134.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 205–208.
ZH VI 92–95, Nr. 881.
Zusätze fremder Hand
|
92/24 |
Johann Georg Hamann |
|
95/33 |
Johann Georg Hamann |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
92/22 |
1785. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: 1785 |
|
92/24 |
No 15. ]
|
Hinzugefügt nach der Handschrift. |
|
92/24 |
Oct. |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Oct. |
|
92/24 |
30 ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: 30. |
|
92/26 |
Brief, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Brief |
|
92/31 –93/1
|
„Von […] miteinander.“] |
Die Auszeichnungs-Konvention für Anführungszeichen des 18. Jahrhunderts wurde modernisiert (wie ZH es auch sonst tut, aber hier unterlässt). |
|
92/32 |
3 ten – ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: 3 ten |
|
93/1 |
miteinander ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: mit einander |
|
93/2 –3
|
„Buchholtzen […] hier.“] |
Die Auszeichnungs-Konvention für Anführungszeichen des 18. Jahrhunderts wurde modernisiert (wie ZH es auch sonst tut, aber hier unterlässt). |
|
93/30 –32
|
„Aus […] hatte.“] |
Die Auszeichnungs-Konvention für Anführungszeichen des 18. Jahrhunderts wurde modernisiert (wie ZH es auch sonst tut, aber hier unterlässt). |
|
95/12 |
gespannt. – ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: gespannt. |
|
95/31 |
frco . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: frco |
|
95/33 |
Oct ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Oct |
|
95/33 |
XXIII. |
Geändert nach der Handschrift; ZH: XXIII |
|
95/33 |
Oct. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Oct. |