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Kgsb. den 17 Novbr. 85.
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HöchstzuEhrender Freund,
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HE Kr. H. überschickte mir vorgestern Abend Ihren Brief vom 12 nebst
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den beyden dazu gehörigen Büchern. Ich wurde durch denselben sehr
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beunruhigt, und glaubte zuletzt gar darinn ein bloßes Persiflage meines
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bisherigen Geschmiers an Sie zu finden. Gestern brachte mir der
Commissair
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unsers Viertels von HE Stadtrath W. das Schreiben vom 11 – worinn ich
S. 140
alles das aufgelößt fand, worüber mich Ihr Stillschweigen befremdet
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und irre gemacht hatte. Ich schreibe aus bloßer Nothdurft, die Ihre
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Freundschaft nicht misdeuten wird, und darf mich daher wegen Inhalts und
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Tons nicht weiter entschuldigen. Die Hofmeisterstelle lag
mir wirklich am
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Herzen
, weil ich
beyde
Theile nach
Wunsch glaubte
und
hoffte
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versorgt zu haben. Es war mir auch an einer baldigen entscheidenden
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Antwort gelegen, weil der
Candidat
andere Vorschläge hat und derselben
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würdig ist. Desto lieber ist es mir, diese Sache nunmehr abgemacht zu sehen –
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wenigstens im Gange und in beßeren Händen.
Hoc erat in votis.
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Ich habe eben ein sehr angenehm unterhaltendes Buch des Hptm. von
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Archenholtz über Engl. und Italien gelesen. Die beyden Theile über das
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erstere sind vorzügl. Der letzte hat mir blos zum Examen mit
Hill
gedient,
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der mir keine Antwort schuldig geblieben und mit mehr Nutzen gereist, als
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man es ihm zutrauen sollte. Mit dem 1.
Xbr.
zieht er bey Jacobi. Alles lebt
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wider mit ihm in meinem Hause.
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Ich habe die
philosophischen u critischen Untersuchungen über das
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A.T.
und deßen Göttlichkeit, besonders über die mosaische Religion
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London 785. welche dem Min. von Zedlitz
dedici
rt sind, nicht aushalten
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können, sondern sie beynahe ungelesen zurückgegeben. Sie verdienen kaum
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die Ehre ein
Pendant
des
Horus
zu heißen, und scheinen mir eher von
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einem elenden Ulrich oder Schultz zu seyn.
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Der November der Berl. Monatsschrift ist desto wichtiger für mich
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gewesen wegen eines Briefwechsels des Lavaters, der dem
D. de Neufville
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aus Frkf. in Gegenwart des
D.
Hoze einen Brief im Sept. über die
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Krankheit seiner Frau dictirt an Hofrath
Marcard
zu Hannover, der aus
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Lausanne
darauf geantwortet in einem sehr meisterhaften Ton. Der Gr.
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zu Stolberg sagte mir schon, daß L. in Gefahr wäre durch eine Krankheit
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seiner Frau sich wider anstößig zu machen durch Experimente, die in Paris
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getrieben würden mit einer Umstimmung der
sinnl
. Werkzeuge, welche man
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jetzt Desorganisation nennt. Ein
Marquis de Puysegur labori
rt zu
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Strasburg u ein
Mr I
hat schon zu
Paris
einen
Essay sur les probalités du
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Somnambulisme magnetique
herausgegeben. Der gute L. hat also durch
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diese neumodische
Cur
seine kranke Frau in einen so
exalti
rten Zustand
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versetzt, daß sie im Schlafe weißagt – und Wunder redt, die den ungläubigen
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und lieblosen Berl. zum Gelächter dienen. Unser Kant, der auch in diesem hat
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Monath den Begriff des, was er unter Menschen
racen
versteht, entwickelt –
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kürzl. einen
Versuch über den Grundsatz des Naturrechts
S. 141
von einem
Doct. Philos.
u.
Jur. Vtr.
Gottl
.
Hufeland
erhalten, in dem
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er fast auf allen Seiten, der Schiblemini auch oft gnug angeführt und citirt
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wird. Der Mann hat Belesenheit und eine gewiße Evolutionsgabe, aber
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nicht in dem besten Verstande, der Ihrem Geschmack Gnüge thun würde.
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Meine Eitelkeit in so guter Gesellschaft aufgenommen zu werden wird wol
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nicht lange währen, und ich erwarte mit der nächsten Post den neuesten Band
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der Allg. D. Bibl. welche sich bis zu einer ausführl. Recension meines
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Golgotha herabgelaßen, um mir vermuthl. Galgen und Rad aufzurichten. Wenn
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die Fische nur recht angebißen hätten, so würde ich meinen Köder nicht
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umsonst ausgeworfen haben – und ich würde das Kirchenjahr vergnügt
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beschließen und anfangen. Die langen Abende der lieben Adventzeit sind mir
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immer Erndte und Weinlese gewesen, und der Winterheerd geselliger mit
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seinem Mond- u Schneelicht als das weite Feld und alle verführerische
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Gartenluft.
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Anstatt der 86 rth habe mit 41 u einigen gl. für lieb nehmen müßen. Gott
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hat aber alles reichlich ersetzt; meinem Hans ein neues Kleid beschert und
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einen
Plinium ex ed. Harduini in fol
748 – nach dem ich längst getrachtet,
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schon in Basel 3 bis 4 Carolinen auf eine 4te Ausgabe bot, aber um einen
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mit dem Buchhändler differirte. Sein junger Freund Nicolovius hat ihm
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dies Geschenk auf eine so unerwartete als annehmungswürdige Art gemacht.
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Ich bin schon zu alt dies Buch mit Nutzen zu lesen; aber für meinen Sohn ist
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es der rechte Zeitpunkt in dieser Qvelle zu schöpfen und sich zu baden.
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Die
Briefe über die Naturproducte vom Verf der kosmologischen
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Unterhaltungen
sind mein Zeitvertreib. Der erste Theil ist nur heraus,
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aber wegen der schönen
illumini
rten Kupfer sehr kostbar. Dies ist der
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beste Philosoph meines Erachtens für die junge und schöne Welt, und
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ich ziehe sein Talent dem Campe u Saltzmann weit vor.
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Eben so viel Vergnügen macht mir Zimmermanns geographische
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Geschichte des Menschen, deßen
dritten
Band ich lese. Der ganze 2te u die
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letzte Hälfte des ersten ist ein bloßes Verzeichnis nach seinem Plan. Von
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einem so vorzügl. Buche läßt sich aber bald eine neue Auflage vermuthen,
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welche die jetzige übertreffen wird. Vielleicht bin ich im stande, Ihnen beyde
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einmal mitzutheilen, wenn Sie, höchstzuEhrender Freund, zum Lesen
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aufgeräumter seyn werden.
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Kraus hat die beyden besten Schriften von
Heynecke
sich anschaffen
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müßen auf meine dringende Empfehlung, und nach denen müßen Sie ihn
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beurtheilen. Seine Methode ist ein
Geheimnis
, so viel ich weiß, aber aus
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seinen Leidenschaften macht er keins. Er hat noch ein großes Buch über das
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Buchstabiren gemacht, in deßen Vorrede mein
nomen proprium
zu einem
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verbo modific
irt. Es scheint daher eine Art von Sym- und Antipathie
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zwischen uns im Spiel zu seyn.
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Von Hemsterhuis ist das Original des Simons noch nicht herausgekommen.
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Herder hat ihn 9 Tage in Weimar um sich gehabt in Gesellschaft der
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Fürstin Galliczin, des Exministers Fürstenbergs und des mir durch Ihr
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Museum so lieb gewordenen Raths Sprickmann. Unser Freund H. war sehr
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zufrieden mit seinem Gemälde von dieser
ausgesuchten Gesellschaft
.
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Ich will Ihnen abschreiben das von Hemsterhuis.
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– in seinem ganzen Wesen ein alter, feiner stiller Republicaner, der, ich
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möchte sagen, nach der Weise eines schlausammelnden Holländers alles
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Schöne der Wißenschaften u Künste in und um sich gesammelt zu haben
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scheint, dazu er reichen konnte. Die Wahrheit zu sagen ist er mir in der
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Gesellschaft der intereßanteste gewesen, ein volles aber still liegendes Gefäß
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voll liebl. Weins, das sanft hergiebt wo man es anbohrt. Ich möchte eine
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Zeitlang ihm in der Nähe leben und insonderheit das Band einer gantz
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gemeinsch. Sprache haben: denn da er nur frantz. spricht, so entflieht mir
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schon, wenn ich die Sprache auf die Lippen nehme, das Beste, was ich
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sagen wollte.
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Und Sie fragen noch, warum ich es
politisch
nenne, daß unser Freund
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14 Tage früher den Brief des Rabbi an den Kritiker gelesen ohne mir ein
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Wort zu sagen, und mir sein
Bewundern
ins Gesicht äußert, daß man
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mir denselben mitgetheilt, als wenn kein
depot
in meinem Ohr sicher wäre.
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Ich habe meinen letzten Brief bey dem Kaufmann Jacobi
gesiegelt
,
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deßen Factor neben dem HE Stadtrath Wirth wohnt, und dadurch ein
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Compendium
entdeckt – Des mir angewiesenen bey
Me Cuvry
werde mich
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bedienen zur Uebersendung des Kästchens mit dem
Muses,
womit meine
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kranke Magd kaum bis nach dem Friedl. Thore vom Licent aus erreichen
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möchte –
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Des Jacobi Spinozabüchl. wie es Claudius nennt, nehme mir die Freyheit
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zu
remitti
ren, weil es Ihnen zugedacht gewesen, und Einnehmer Brahl
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auch seins erhalten. Vor der Samml. seiner Schriften steht nicht sein Kupfer.
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Er hat dem HE Kr. H. u mir einen neuen Kupferstich nach der Zeichnung
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seines Freundes Hemsterhuis zugeschickt, welches Sie hier zu sehen
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bekommen werden.
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Den 2ten Theil von Herders Ideen lege auch bey und bitte es nicht eher
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wider zu schicken als bis mir der Verleger etwa dazu nöthigen möchte; wie
2
er mir den ersten Theil für Kant abnahm, weil ich eins wie gegenwärtiges
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vom Autor erhielt. Wenn Ihnen an dem Dintenfleck nicht gelegen ist, so
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werden Sie dadurch überhoben seyn vermuthl. diesen 2ten Theil sich
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anzuschaffen, und mir zu Gefallen dafür lieber sich nicht gereuen laßen die
6
Clli
schen Vorlesungen fortzusetzen.
7
In Graventihn haben si
ch
e einen Gast aus Potsdam gehabt, HE
8
Bräunlich der als Hofmeister bey einem Grafen von Dönhof und
9
Finkenstein komt – HE Scheller hat sich auch bei mir angemeldt, ich habe ihn aber
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schon vor seiner Anmeldung erwartet – der Feldprediger Bertau, welcher
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ehemals Hofmeister bey HE Kanter war, heyrathet meine Nachbarinn die
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Mlle Borowski
– und meine jüngste Tochter Marianne Sophie beschliest
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heute ihr erstes Stuffenjahr und tritt morgen in ihr 8tes, hat unter Hill
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bereits Claudius Liedchen nach Reichards (der den 5ten d. in Berl glücklich
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gottl. angekommen) Melodie klimpern gelernt. Ich danke Gott und freue
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mich.
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Von M. Pleßing habe aus Wernigerode wo er bey seinen Eltern
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privatisirt, gestern einen Brief erhalten. Er hat sich gantz auf die
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griechische Sprache gelegt und sucht einen Verleger zu einem großen
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Werk in 2 Bänden von 80 Bogen in kl. 8
o
über
die schon im frühen
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Alterthum erkannte höchste Gottheit oder historisch-philosophische
22
Untersuchungen über die Denkart, Theol. u.
φφ
ie der ältesten
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Völker vorzügl. der Aegypter
u Griechen
bis auf Aristoteles Zeiten
.
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Benzler, Gr. Stolbergscher Bibliothekar hat mir auch einige Anzeigen
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zu seiner engl. poetischen Bibliothek zugeschickt, wozu mein Sohn
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schon einige angeworben. Ich habe seit vielen Jahren an dieses unglückl.
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halb blinden u mit Kindern begabten Mannes
Geschick
Antheil genommen
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der schon einmal sich anerbot hieher zu kommen u sein Glück zu versuchen.
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Wie wohl haben Sie gethan kein Engl. gelernt zu haben. Nun sind Sie
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freilich
f
vor meinem
Coge intrare
sicher.
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Nicht beym lieben Brodt – von dem der Mensch nicht allein lebt, wie
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Moses sagt und des Menschen sohn bekräftigt, schwitzt mein Nase, sondern
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lieber beym Sauerbraten. Der ist mein
Diaphereticum.
Ein gewißer
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Michaelis hat des
Spalanzani
Werk von der Verdauung übersetzt, das
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sich
pour la rareté du fait
ungemein appetitlich lesen läßt, als ein
Chef
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d’œuvre
in seiner Art. Um Ihre zu schonen u meine zu befördern muß ich
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dem Beyspiel meiner Leute folgen und schlafen gehen. Gott helfe meine kranke
S. 144
Freundin u Gevatterin
Me Courtan
glückl. wider nach Hause, die wo nicht
2
unterwegens ist, doch es wünscht zu seyn. Empfehlen Sie bestens der geehrten
3
Frau Kriegsräthin Ihren
4
alten ergebensten Diener u Freund
5
Joh. Ge. Hamann.
6
Adresse:
7
Des HErrn Kriegsrath Schefner / Wolgeboren / zu /
Sprintlacken
. /
8
Nebst
drey
Büchern.
Provenienz
Druck ZH nach dem überlieferten Typoskript Walther Ziesemers. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Preußisches Staatsarchiv Königsberg, Nachlass Johann George Scheffner.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 294–296.
ZH VI 139–144, Nr. 895.