896
144/10
Düßeldorf den 17
ten
Nov.
1785


11
Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):

12
Erh. den 30
Nov.
85

13
Geantw
eod.
No
17.


14
lieber Herzensfreund,

15
Ich habe am 11.
ten
ein dickes Packet, welches einen Brief v Buchholtz u ein

16
biljet von mir enthielt an Sie abgefertigt. Ich versprach ein Biljet mit der

17
nächsten Post mehr zu schreiben, aber mein Befinden hat es mir nicht

18
zugelaßen. Ich bin auch gegenwärtig noch nicht wohl, könnte aber um alles in der

19
Welt nicht noch einen Posttag versäumen, wenn auch Ihr 2
tes
Schreiben

20
vom 5.
ten
Nov nicht noch dazu gekommen wäre. Ich kann Ihnen gar nicht

21
sagen, liebster Hamann, was Sie mir sind, u wie Sie mit Ihrem ganzen

22
Wesen auf das meine würken. Gott wird helfen daß wir uns bald sehen.

23
Daß Mendelssohn u sein Anhang schrecklich böse auf mich werden würde,

24
konnte ich voraussehen, aber doch nicht so klar, als nachdem ich die

25
Morgenstunden erhalten hatte. Da Sie die Urkunden gern leibhaftig sehen, lege ich

26
den
Original Brief
v Mendelssohn, womit er sein Buch mir überschickte

27
hiebey. Dann auch die Abschrift des Briefes womit
ich
Mendelssohn
mein

28
Werkl. übersandte. Die Packete haben glücklicher Weise sich gekreutzt. Bald

29
darauf erhielt ich einen Brief v der Elise, den ich auch in original beilegen

30
will, nebst einer Abschrift meiner Antwort. Wenn Sie diese etwas zu lebhaft

31
finden sollten, so glauben Sie nicht daß ich Ihren guten Rath darum in den

32
Wind schlagen werde. Ich werde nichts übereilen, u
Sie sollen gewiß

33
mit mir zufrieden seyn
. – Wüßt ich doch ein
Mittel,
wüßte
Ihnen

S. 145
ein recht wahres Bild v mir zu geben! – Weil ich fast immer
mit
Affect

2
handle u rede, so handle u rede ich darum nicht immer
aus
Affect. Die

3
Menge tiefer Leiden hat mein Inneres zu einer eigenen Art von Unterthänigkeit

4
zerknirscht. Nicht daß ich mir Gefühle geben u nehmen, sie nach Willkühr

5
schwächen oder verstärken könnte, sondern mir ist nur eine

6
Fähigkeit u Fertigkeit geworden, gewißermaaßen keine
Notitz
v ihnen zu nehmen,

7
u ihnen zuzusehen, als wenn sie nicht zu mir gehörten. Was für sonderbahre

8
Contraste dies erworbene Flegma (wovon auch schon der Keim in einem

9
angebohrnen Tiefsinn lag) mit meinem Feuer, wovon ich noch nicht das

10
mindeste verlohren habe, machen muß, u ihr gegenseitiges Spiel mit

11
einander, können Sie ohngefähr sich vorstellen. Mit lauten, brausenden,

12
unruhigen Menschen; mit auffahrenden (es sey in Begierde oder Abscheu, Liebe

13
oder Haß) kann ich
gar
ohne Ueberwindung nicht umgehen. Verschloßene

14
Menschen kann ich nicht lieben, weil ich selbst im höchsten Grade offenherzig

15
bin. Unter allen Affecten, bin ich zur Rachsucht am wenigsten, u zum

16
Unwillen am mehrsten geneigt. Aber
geneigt
ist nicht das rechte Wort,

17
sondern Unwille u Eckel ist das was ich am
stärksten
, u Rachsucht, was ich

18
am schwächsten empfinde. Uebrigens bin ich durchaus so beschaffen, daß

19
ich
das
vom schönen u Guten weit mehr, als vom Häßlichen u Bösen

20
gerührt
werde, folglich auch jenes mehr suche als diesem aus dem Wege gehe.

21
den 18.
ten
Nov.

22
Doch fange ich an v dieser Seite einige Veränderungen zu spüren, die ich dem

23
herannahenden Alter zuschreibe. Indeßen ist mir aller
Calcul
in etwas

24
wichtigen Dingen noch immer eben sehr zuwider, u wird es wahrscheinlich bis

25
ans Ende meines Lebens bleiben. – Soviel, für diesmahl, von meinem

26
natürlichen Menschen.

27
Die Worte in Ihrem Briefe vom 30
ten
Oct.: „Herr Herr sagen ist eben so

28
wenig ein Beweis, als Voltairens
Dieu
eine Widerlegung des
Systeme de la

29
Nature
“ – habe ich auf mich gedeutet, u sie mir gesagt seyn laßen, wenn

30
sie mir auch nicht gesagt waren. Ich
hoffe
sie werden, so wie ich sie

31
aufgenommen habe, in meinem Gemüthe
G
haften bleiben.

32
Es ist mir aufgefallen daß Sie mir nichts v Kants eigenen Gesinnungen

33
melden, nichts v seinem näheren Urtheil über mein Spinoza Büchlein, da

34
Sie doch in der Absicht etwas Näheres darüber zu vernehmen zu ihm

35
gegangen waren. Auch v Hippel melden Sie mir nichts. – Was die Berliner

36
angeht, so bin ich sehr zufrieden, wenn sie in meinem Büchl. den Kopf des

S. 146
Spinoza, Herders Torso, u Göthens Zehen finden, gesetzt auch daß sie mit

2
den Zehen Klauen oder Krallen meinten. Es ließe sich zum größten

3
Lobspruch deuten, denn was könnte man für einen Schriftsteller wohl

4
schmeichelhafteres sagen, als er denke mit einem Kopfe wie der v Spinoza, athme

5
wie aus Herders Brust, u bewege sich, wie mit Göthes Füßen. Die nähere

6
Bestimmung wird auch mir wohl mit der Zeit bekannt werden; unterdeßen

7
wird das Ding sich v selbst schon rühren, wenn es nicht in der That blos

8
zusammen geflickt
ist; ich werde um seine einfache Substanz u seine

9
Unsterblichkeit darzuthun keinen Phädon schreiben. Mich wundert daß
Sie

10
nicht auch in Mendelssohns Briefe vorkommen. – Auf meine Verschwiegenheit

11
können Sie sicher zählen. Ihnen gebe ich
einen
ein für allemahl die

12
Erlaubniß, von dem was ich Ihnen schreibe oder mittheile, nach dem Rath

13
Ihres Genius Gebrauch zu machen, sintemahl er bey mir in einem ungleich

14
größeren Ansehn als mein eigener steht. Der ganzen Menschheit in einem

15
Menschen kann ich alles, der Weisheit, Tugend u.s.w. aber, die nur
in
ihm

16
ist, Bluts wenig zutrauen.

17
Sagen Sie mir doch, Lieber, ob Sie es begreiffen, daß es dem Verfaßer

18
der Critik der reinen Vernunft, eben so wie Mendelssohn ergeht, u er meine

19
Auslegung
sich eben
so wenig als den Text des Spinoza sich selbst

20
verständlich machen kann. Ich habe die Critik der reinen Vernunft von neuem

21
vorgenommen, u kann nicht anders denken, als daß dieser Aussage eine

22
Sophisterey unter liegen muß. Daß
C
Kant sich zu einem Gang mit

23
Mendelssohn entschloßen, war mir eine sehr angenehme Nachricht. – Hier der

24
original
Brief v Hemsterhuis, aus dem Sie, Leider, wenig Trost schöpfen

25
werden. – Die
Methaphysik
kommt mir je mehr u mehr, nach allen

26
Prädicamenten u Prädicabilien der Vergleichung – wie der Turm zu Babel vor.

27
Aus Furcht am Ende mit der Zeit zu kurz zu kommen, will ich vor der

28
Hand Ihre Fragen das Museum betreffend abthun.

29
Die Gedanken Verschiedener sind von Mendelssohn u Dohm, aber auf

30
meine eigene Veranlaßung zum Druck befördert durch Dohm. Der

31
französische Brief ist nicht v der Prinzeßinn, sondern v dem HE v Fürstenberg.

32
Die Buchstaben
B
et H
… bedeuten Bokum u Ham.
Pour le votum de

33
bedeuten die Punkte,
München
. W-r. Woldemar. – In meiner Antwort:

34
ch
E‥‥: chere Excellence.
– Die Prinzeßinn hat den Nahmen Amalia;

35
vielleicht aber heißt sie auch Adelaide. Ich meine auch daß ich sie so habe in

36
Briefen genannt gefunden. – Meine Vergleichung zwischen Protestanten u

37
Katholicken steht in meinen vermischten Schriften S 128; u im Museum

S. 147
1779. May. S
420
. Die kleinen Bchz. sind von unserm Alcibiades, u er ist

2
es auch v dem in dem Auszuge aus einem Schreiben aus Rom die Rede ist. –

3
Das Fragment über Recht u Gewalt habe ich weder aus Animosität gegen

4
den Merkur, noch in irgend sonst einer persönlichen Rücksicht geschrieben.

5
Wielands Aufsatz hatte mich dergestalt revoltiert, daß ich ihm gleich bey der

6
Erscheinung schrieb, um ihm die Freundschaft aufzukündigen. Ich hatte

7
unzählige Unarten, die nur meine Person angiengen, von ihm ertragen, weil

8
ich ihn akkurat wie ein Kind von Seite des Charakters betrachtete. Durch

9
diesen Aufsatz wurde er mir eckelhaft u abscheulich. Wegen dieses Eckels u

10
dieses Abscheues, hat es mich keine geringe Ueberwindung gekostet die

11
Widerlegung dieses Aufsatzes zu unternehmen, u wenn ich es mit Geld hätte

12
abkaufen können, ich hätte es gethan. Aber es war etwas in mir, das mir

13
keinen Frieden ließ bis ich mich entschloß. Die Fortsetzung blieb aus, weil eine

14
Unpäßlichkeit, eine Reise, u andere Hinderniße dazwischenkamen. Hernach

15
schien es mir auch beßer, es dabey zu laßen. Die üble Launen gegen das

16
Museum, auf die ich mich nur dunkel besinne, hat nichts dazu gethan.

17
Der Mann, den ich neulich mein
fac totum
nannte, der mein eigentlicher

18
Vertrauter u mein Busenfreund im engsten Verstande ist, heißt Heinrich

19
Schenk, u ist nicht mit der Prinzeßinn zu Weimar gewesen. Vielleicht hat man

20
dort den Rath Sprickmann für den Sekretär angesehen. Der Sekretär der

21
Prinzeßinn, der zugleich die Aufsicht über ihre Kinder hat, heißt Hase, u ist

22
ein guter aber sehr bornirter Mensch.

23
Aus einem Briefe der Prinzeßinn an meine Schwester, der heute angekommen

24
ist, weiß ich Buchholtzens glückliche Ankunft in Münster, mehr aber nicht.

25
Ich werde alle Augenblicke im Schreiben unterbrochen, u mein

26
übles Befinden läßt mich in den Zwischen Räumen nicht fort kommen. –

27
Herzlichen Dank, liebster Hamann, für die Auskunft über das Schreiben des

28
Ungenannten welches ich Ihnen neulich mittheilte. Fürchten Sie v meiner Seite

29
keinen Mißbrauch. – Daß Hippel als Verfaßer der Lebensläufe in Meusels

30
gelehrtem Deutschlande steht, werden Sie wißen.

31
Wenn ich v den Berlinern zu einer Verantwortung genöthigt werde, so

32
nehme ich den Eingang aus Leßings letztem Briefe an mich, in dem er mir

33
au
f
s einer gewißen Veranlaßung schrieb: „Ich wüßte nicht, was ich nicht

34
lieber v Ihnen lesen möchte, als eine Rechtfertigung Ihrer selbst. Der

35
Mann, wie Sie, hat bey mir niemals unrecht, wenn er es auch gegen eine

36
ganze Welt haben könnte.“ – Es wird beynah zu jedem Uebergange paßen.

37
Die Recension des Scheblimini habe ich schon vor 3 Wochen gelesen, u sie

S. 148
höchst elend, seicht u abgeschmackt gefunden, so daß sich nichts darüber sagen

2
läßt. Es läßt sich nichts daraus nehmen, u nichts damit anfangen.

3
Ich kann nicht länger schreiben, u doch muß ich Ihnen noch sagen, daß ich

4
Gott wie ein Kind um Gesundheit für Sie bitte, um Heiterkeit u Gnade, daß

5
Ihnen Ihr versuch bald gelingen möge. – Ich habe am Sonnabend wieder

6
ihre Apologie des Buchstaben H
gelesen,
u mich bis ins innerste Mark daran

7
erbaut. Den Sonntag las ich auch die Denkwürdigkeiten noch einmahl –

8
lieber, lieber Hamann!

9
Grüßen Sie Ihre Kinder von mir, u die Mutter Ihrer Kinder – Von

10
ganzem Herzen u v ganzer Seele –

11
Ihr F. Jacobi


12
Mein Kopf ist so trübe, daß ich glaubte in meinem vorigen Briefe Ihnen

13
schon geschrieben zu haben, daß Reichard mit seinem lieben Weibe hiedurch

14
gekommen ist, u sich einen Tag bey mir zu Pempelfort aufgehalten hat. Es

15
war am 26.
ten
Oct. Der Mann hat mir sehr
gefallen,
wußte mir aber von

16
Ihnen nicht so viel zu erzählen als ich gern gehört hätte:
Il m’a l’air d’un

17
homme un peu trop repandu.

18
Wenn Sie mir einiges Licht darüber geben könnten, wie man Göthes

19
Zehen in meinem Sp. Büchl. findet, geschahe mir ein Gefallen. – Der

20
Prometheus ist v ihm, das erräth man vermuthlich, aber daraus versteh ich nicht

21
genug.

22
Bey der neuen verbeßerten Ausgabe v Herders Theol Briefen ist eine

23
närrische
etourderie
begangen worden. Man hat die Vorrede zum 2.
ten

24
Bande v neuem wörtlich abgedruckt, u
NB,
die dort angezeigten Druckfehler

25
von neuem treulich wiederhohlt. – Haben Sie die Rezension des 1sten Theils

26
der Ideen im 61 Bande der Allg. gelesen?

27
Die Abschriften brauchen Sie nicht zurück zu schicken.

Dem Brief lagen laut ZH bei:

1. Hemsterhuis an Jacobi, 26. April 1784, vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 3: 1782–1784. Hg. von Peter Bachmaier, Michael Brüggen, Heinz Gockel, Reinhard Lauth und Peter-Paul Schneider. Stuttgart-Bad Cannstadt 1987, 311–313. Eine Abschrift des Briefes von Hamanns Hand ist überliefert in der Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Zum Inhalt: Hemsterhuis kündigt den Besuch des Sohnes des berühmten Anatomen Camper in Düsseldorf an und verspricht die Übersendung der „Principes de la Pantosophie“ des Spinozaschülers Küssler.

2. Jacobi an Mendelssohn, 30. September 1785, vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi (Stuttgart-Bad Cannstadt 2003), 193 f. Eine Abschrift des Briefes von Schenks Hand ist überliefert in der Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Zum Inhalt: Jacobi übersandte mit diesem Brief sein Werk „Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn.“

3. Moses Mendelssohn an Jacobi, 4. Oktober 1785, vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi (Stuttgart-Bad Cannstadt 2003), 196 f. Eine Abschrift des Briefes von Hamanns Hand ist überliefert in der Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Zum Inhalt: Begleitschreiben, mit dem Mendelssohn den 1. Teil seiner „Morgenstunden“ übersandte.

4. Elise Reimarus an Jacobi, 24.–28. Oktober 1785, vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi (Stuttgart-Bad Cannstadt 2003), 224–226. Eine Abschrift des Briefes von Hamanns Hand ist überliefert in der Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Zum Inhalt: Reaktion von Elise Reimarus auf Jacobis Spinozabüchlein bezüglich Lessings Gottesbegriff.

5. Jacobi an Elise Reimarus, 7. November 1785, vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi (Stuttgart-Bad Cannstadt 2003), 234–237. Nur überliefert als Abschrift Schenks mit Korrekturen Jacobis in der Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035. Der Brief lautet:

552/7
Düßeldorf, den 7
ten
Nov. 1785

8
Liebste Elise

9
Das Beziehen meines Winterquartiers, und heftige

10
Kopfschmerzen die mich mitten auf dem Marsche überfielen, haben

11
mich verhindert Ihren Brief vom 24
ten
und 25
ten
Oct. gleich mit

12
der ersten Post zu beantworten.

13
Daß die öffentliche Erscheinung meiner Briefe an Mendelssohn

14
Ihnen wenig Freude machen würde, konnte ich voraussehen, weil

15
diese Erscheinung Absichten und Maaßangaben zuwider lief, an

16
denen Sie Theil genommen hatten, und in welche Sie verflochten

17
waren. Die
Vorwürfe
aber welche Sie mir machen, hatte ich –

18
von Ihnen
nicht erwartet, sondern ich sah ihnen nur in der Allg.

19
Bibl., in der Berl. Monathschrift und anderen öffentlichen

20
Blättern entgegen.

21
„Unser Leßing“ schreiben Sie, „mußte allerdings bey der Nachwelt

22
nicht anders erscheinen als er war; das heißt: Nicht als Deist,

23
wenn wir wißen daß er ein Spinozist war; aber – das ganze

24
Detail eines freundschaftlichen Gesprächs, u.s.w. Hierauf

25
antworte ich,

26
Erstlich. Das durch mich bekannt gemachte Gespräch war kein

27
eigentlich vertrauliches Gespräch. Das widrigste darinn ist der

28
Anfang, wo Leßing den Prometheus adoptiert. Bey diesem Auftritte

29
war meine Schwester zugegen; und Wolke kam dazu, ohne daß

30
Leßing seine Rede unterbrach oder sie veränderte. Wolke bekam

31
auch bey dieser Gelegenheit (wenn mein Gedächtnis mich nicht

32
sehr betrügt) das Gedicht zu lesen. Ich könnte ähnliche
facta

33
beybringen, wo Leßing in Gegenwart von Leuten, die gewiß

34
nicht
die Vertrauten seines Kopfs und seiner Seele

35
waren, seinen Spinozismus zu Tage legte. Er verheelte ungern

36
seine Meynungen. Wenn er eine Maske vorhielt, so war es nicht,

37
um sich unkenntlich zu machen, sondern blos um sich damit zu

S. 553
schützen; und es ärgerte ihn eben so sehr wenn man die Maske für

2
sein Gesicht ansah, als wenn man glaubte, er wolle sie im Ernst

3
dafür gehalten wißen. Das aber lag tief in seinem Character, daß

4
er von keinem Menschen und
von keinem Dinge
der Narre

5
seyn wollte. Niemand sollte ihn auslachen; am wenigsten er sich

6
selbst: und er hätte geglaubt sich selbst auslachen zu müßen, wenn

7
er sich auf irgend eine Art zum Märtyrer promoviert hätte.

8
Zweytens. Sehe ich nicht ein, wie man Leßing bey der

9
Nachwelt als einen Spinozisten darstellen will, ohne irgend etwas,

10
woraus. Nehmen Sie meinem Bericht die Theile, welche Sie gern

11
unterdrückt gesehen hätten; was bleibt übrig, als eine Sage, der

12
das Siegel der Geschichte, und der bestimmte eigentliche Inhalt

13
mangelt? –
Desto beßer
! werden Sie sagen; und, mit Ihnen,

14
Mendelssohn. – So hat aber Mendelssohn vorher nicht

15
gesprochen; und es ist sonderbar genug, daß seine Anfangs so

16
heroische Philosophie, nach und nach so zärtlich geworden ist, daß sie

17
sich in alle Mäntel eines frommen Betrugs einwickelt, um von

18
dem rauhen Winde der Wahrheit, oder der Zugluft der Geschichte

19
nicht verschnupft zu werden. Im Jahre 83. schrieb er Ihnen:

20
„Auch unseres besten Freundes Nahme soll bey der Nachwelt

21
nicht mehr und nicht weniger glänzen als er es verdient. Die

22
Wahrheit kann auch hier nur gewinnen. Sind seine Gründe seicht,

23
so dienen sie zu ihrem (der Wahrheit) Triumph: sind sie aber

24
gefährlich; so mag die gute Dame für ihre Vertheidigung sorgen. –

25
Ueberhaupt setze ich mich dann (wenn ich über Leßings Character

26
schreibe) ein halbes Jahrhundert weiter hinaus, wo alle

27
Partheylichkeit aufgehört haben, alle unsere jetzige Trakaßerie

28
vergeßen seyn wird.“ –

29
Und nun – Wahrhaftig, ich wußte nicht ob ich meinen Augen

30
trauen sollte, da ich in den Morgenstunden, nachdem ich die

31
Vorrede gelesen hatte, das
XIII. XIV.
u
XV.
Hauptstück durchlief.

32
Ich legte das Buch weg, und habe es bis diese Stunde noch nicht

33
wieder in die Hand nehmen mögen. Heißt das, auf jede Gefahr

34
der Wahrheit Zeugniß geben; oder sie, nach Willkühr seinem

35
Eigendünkel unterwerfen? Offenbar wollte Mendelssohn, daß sie
nicht

36
an den Tag käme. Wenn ja etwas von ihr verlautet hätte, so

37
sollte es nun wieder vertuscht, und allem künftigen Gerücht von

S. 554
ihr gesteuert werden. Darum, vermuthlich, wollte Mendelssohn

2
auf meine Frage auch nicht antworten: Ob es nicht gut, und

3
gerade in dem gegenwärtigen Zeitpunkte von Nutzen seyn

4
würde, den Spinozismus in seiner wahren Gestalt, und
nach

5
dem notwendigen Zusammenhange seiner Theile
,

6
öffentlich darzustellen? Denn Mendelssohn war gerade in dem

7
gegenwärtigen Zeitpunkte eines leidlichen Spinozismus bedürftig,

8
der zu einem noch mehr leidlichen Pantheismus geläutert, und

9
dann im Falle der Noth Leßing zugeschrieben werden könnte.

10
Von allem diesem – überhaupt daß Mendelssohn die Sache

11
drechseln und nach seinem Sinne formen würde – war ich nicht

12
ohne Ahndung. Ich wollte nicht mich und Leßing ihm aufs

13
Gerathe wohl überlaßen; nicht mir das Heft aus den Händen winden

14
laßen; nicht das Nachsehen und Nachlaufen haben. Mir ist

15
Leßing, so wie er war, gut genug; ich schäme mich seiner nicht,

16
sondern werde, solange ich lebe, ihm als Freund treu und stolz

17
zur Seite stehen. Mit dem geläuterten Pantheismus, den er zu

18
seiner Genesung einnehmen soll, wäre er, nach meinem Urtheil,

19
nur ein
Halbkopf
; und dazu will ich ihn nach seinem Tode

20
nicht durch Mendelssohn erziehen laßen. Meine Wenigkeit mag

21
Mendelssohn mit seinen Knaben immer zu sich in die Schule

22
nehmen, und an uns
lieben Kindern
sein Bestes thun; aber

23
Leßing muß, so gut als Kant, zu Hause bleiben dürfen, und nur,

24
so Gott will, von selbst in sich kehren.


25
Höchst ungern möchte ich mit Mendelssohn in einen Privatstreit

26
gerathen, und ich werde gewiß nicht der erste seyn der Anlaß dazu

27
giebt. Aber wenn auch Er, so laßen doch gewiß seine Freunde mich

28
nicht unangefochten. Das ist nun einmahl in den Berlinern, daß

29
sie einen Göttlichen Beruf fühlen, die Einsichten aller übrigen

30
Menschenkinder zu leiten, und gemäß den Rechten ihrer

31
Infallibilität, dem bösen Unverstande überall zu Leibe gehen müßen, um

32
ihm entweder den Willen zu brechen, oder wenigstens doch, zur

33
allgemeinen Sicherheit und Wohlfahrt an ihm ein Exempel zu

34
statuiren. Da wird dann jedes Mittel gut und heilig.

35
Wie Sie fürchten können, liebe Elise, daß bey diesem Anlaße,

36
wenn er in eine Fehde ausgehen sollte, die Feinde Leßings und der

S. 555
Wahrheit allein den Sieg davon tragen würden, ist mir

2
unbegreiflich. Ich habe für dergleichen Aengstlichkeiten keinen Sinn,

3
ich empfinde sie nicht, und verstehe sie nicht. Leßing dachte

4
hierüber gerade so wie ich. Sie wißen, daß er wünschte, man möchte

5
den Bemühungen,
speculative Wahrheiten gemeinnütziger, und dem

6
Bürgerlichen Leben ersprieslicher zu machen
, einmahl eine

7
entgegen gesetzte Richtung geben, und sich
von der Praxis des

8
Bürgerlichen Lebens zur Speculation erheben
. „Dort, dachte er,

9
würde untersucht, was unter dem Wahren brauchbar; und

10
hier
was unter dem Brauchbahren wahr wäre
.*“ – Es

11
muß gar keine Wahrheit geben, wenn Lüge oder Bemäntelung zu

12
etwas gut seyn kann.


13
Leßings Feinde gehen mich nichts an. Ihr Bruder schrieb, und

14
Mendelssohn wiederhohlte: „Mögen die welche draußen sind,

15
sich betrüben oder freuen, wir bleiben unbekümmert; wir wollen

16
ja keine Parthey machen u.s.w.“ – – – Ich bin es von ganzem

17
Herzen (unbesorgt)
zufrieden
, und weiß daß ich ein nützliches

18
u
und verdienstliches Werk gethan habe, indem ich die

19
eigentliche wahrhafte Philosophie eines Mannes wie Leßing unverhüllt

20
ans Licht stellte. – – So wird auch jedermann, wenn gleich nicht

21
in diesem Augenblick, wenigstens nach einiger Zeit urtheilen. – –


22
* Ernst u Falk, letztes Gespräch, am Ende.

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 106–108.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 138–140.

Rudolf Zoeppritz: Aus F.H. Jacobis Nachlaß. Leipzig 1869, I 69–76.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 247–251.

ZH VI 144–148, Nr. 896.

Zusätze fremder Hand

144/12
–13
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
144/10
1785
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
1785.
144/13
Geantw
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Geantw.
144/13
No
17.
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
144/26
Original Brief
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
OriginalBrief
144/33
Mittel,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Mittel
145/6
Notitz
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Notiz
145/21
den 18.
ten
Nov.
]
Das Datum wurde nachträglich am linken Rand des in der Handschrift fortlaufenden Absatzes eingefügt.
145/30
hoffe
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
hoffe,
146/24
original
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Original
146/25
Methaphysik
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Metaphysik
147/1
420
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
480
148/6
gelesen,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gelesen
148/15
gefallen,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gefallen;