901
165/14
Kgsb. den 5
Xbr.
85.

15
Mein auserwählter, mein gewünschter Franz,

16
Daß ich die ganze vorige Woche die glückliche Heimkunft des lieben jungen

17
Ehpaars in M. und meiner Gevatterin
Courtan
gefeyert, davon habe ich

18
eine Bogenlange
Relationem curiosam
vorgestern an unsern J. geschrieben.

19
Freytags den 2 d. wurde der Geburtstag meiner mittelsten Tochter, Lene

20
Käthe, bey des Wanderers Hill
oncle
gefeyert, weil
er
so wol als seine

21
12jährige Tochter Louise an einem
dato
zur Welt gekommen. Gegen Abend

22
schickte Joh. Mich. unsere Dienstmagd (denn zum Glück war er zu Hause

23
gegangen, weil er keinen
Caffé
trinkt) und ließ mir über Hals und Kopf

24
sagen: daß ein
Officier
aus Münster
zu Hause auf mich wartete. Ich

25
erschrack, weil ich nichts anders als militairische Execution von Ihnen

26
vermuthen konnte. Um die Sache kurz zu machen war es HE
Maior Tiemann,

27
deßen Erzählungen von Ihnen und Ihrer
Marianne
und Lavater zu einem

28
Creditiv
hinlänglich waren. Ich hätte gern ein Licht mehr gehabt, weil die

29
Hausmutter wider ihre Sitte die Kinder begleitet hatte, so war alles

30
verschloßen, ich suchte allso meinen Michael mit seinem Freunde Raphael

31
fortzuschicken, und wir hatten vielleicht den ganzen Abend zusammen zugebracht.

32
Er wünschte sehr die Berlinsche Monatsschrift zu sehen, die ich gleich durch

33
meinen Sohn besorgte und ihm zu bringen versprach. Sein
Logis
wollte er

S. 166
mir ich weis nicht warum? nicht sagen, sondern versprach, mich Sonnabends

2
auch öfterer während seines
Aufenthalts
weil er seine Reisegesellschaft noch

3
abwarten müße, zu besuchen. Ich versprach alle 3 Tage, die er noch zu

4
bleiben willens war, zu Hause oder wenigstens zur Hand zu seyn, sagte

5
Sonnabends vormittag den Besuch ab, den ich der
Me C.
schon bey

6
meinem ersten Gruß vor 8 Tagen versprochen hatte, und habe vorgestern den

7
ganzen Nachmittag und Sonntag aber umsonst, wie auf eine Erscheinung

8
gewartet.

9
Ich denke Ihnen bereits gemeldt zu haben, daß Scheller bey mir

10
eingekehrt ist. Vorigen Dienstag hielt er seine Probepredigt und wurde examinirt;

11
Freytags
ordini
rt. Wir redeten von dem überstandenen
Actu;
er meldete

12
mir, daß der Hofprediger ihn ersucht heute das Montagsgebet in der

13
Schloßkirche für ihn zu halten; ich ihm einen angenehmen Besuch von einem

14
Landsmann aus Sachsen gehabt zu haben. Ich hatte ein gleiches dem
Major

15
gethan, dem aber sein Name völlig unbekannt war. Scheller hingegen

16
versicherte vor einem Jahr einen Schweitzer unter diesem Namen hier im Lande

17
gesehen zu haben. Ungeachtet das
Creditiv
so avthentisch war, fiel es mir

18
ein wenig auf, daß er mir sein Qvartier verschwiegen. Ich gieng also zu

19
Hippel als Policey
Director,
deßen Einladung ich vorige Woche 2mal

20
verbitten müßen und zum dritten mal denselben Mittag vermuthete. Zum

21
Unglück hatte er den
Rapport
zedel der einkommenden Fremden vom 2 d. an die

22
Commissaires de quartier
abgegeben. Ich hatte den
Nov.
der Monatsschrift

23
aufgesucht, und konnte mir also desto eher diesen Vorwand zu nutze

24
machen, weil ich gern über den außerordentl. Briefwechsel, nachdem er

25
selbigen gelesen, woran ihm viel gelegen zu seyn schien mit ihm gesprochen

26
hätte. Hippel bat mich nicht und ich verbat seine Anerbietung nach dem

27
Rapport
zedel zu schicken, sondern ließ der Sache ihren Gang und baute auf

28
sein Versprechen mich noch zu besuchen.

29
Ich war die 1½ Tage unruhig, und meine Dienstmagd wurde dadurch

30
veranlaßt den Kindern zu sagen, daß sie von dem Bedienten des fremden

31
Herrn gehört, sie wären bey
Schenk
eingezogen.

32
Diesen Morgen gieng ich in die Schloßkirche, weil ich nur die Hälfte der

33
Probepredigt gehört hatte und die Neugierde fühlte Etwas ganzes zu hören,

34
auch den gestern versäumten Gottes
dienst
nachzuholen – von da sprach ich

35
bey dem Gasthofe an, fand die Tochter des Hauses, welche mich schon kennt,

36
gab ihr das Buch mit der Bitte es bey seiner Abreise für mich in Empfang zu

37
nehmen, weil ich es geliehen hätte und den HE Oberstwachtmeister auch

S. 167
vielleicht stören möchte, da er mir seinen Aufenthalt verschwiegen hätte. Sie

2
möchte es also als ein nicht von mir selbst überbrachtes sondern überschicktes

3
Buch einhändigen laßen. Sie sagte mir, daß seine Gesellschaft noch nicht

4
angekommen wäre und er noch ein paar Tage hier bleiben würde. Auf jeden

5
Fall versprach ich wider anzusprechen.

6
Wir wurden ungemein vertraut mit einander. Er war im stande mir

7
manches von
S. M.
und einem
Doctor Villamons
zu erzählen, wenn

8
ich den letzten Namen recht gehört habe. Seinen eigenen war er so gütig

9
mit eigner Hand auf ein
Couvert
des Jacobi aufzuschreiben. In Namen und

10
Titel bin ich theils harthörig, theils vergeßen. Seine Hand gefiel mir, wie sein

11
Ausdruck. Aber von seinem Gesicht und Rock hab ich keinen Eindruck gehabt,

12
weil ich nur bey einem einzigen Licht mich mit ihm unterhalten muste.

13
Er kennt Hartknoch, und selbst meinen Freund Arndt in Petersb. deßen

14
Charakter er mir zu nennen wußte. Lentz war ihm auch nicht unbekannt, und

15
der Name eines Staatschirurgus
Parisisus,
eines mir sehr schätzbaren

16
Mannes, von dem mir
Me Courtan
versichert nach der Hand, daß er dieses

17
Frühjahr hier durchkommen wird um ein Bad in Deutschl. zu besuchen – und den

18
ich auch über Ihren
Statum Sanitatis
gern
consuli
ren möchte.

19
Des Lenzen Vater war ihm auch sehr bekannt, und ich habe ihn

20
inständigst gebeten durch
Arndt
oder
Hartknoch
mir von seiner Lage genaue

21
Nachricht zu ertheilen, wegen eines Auftrages, den ich schon Jahre lang

22
gehabt den bewußten Kasten zu besorgen. Ich bat mir aus ihm einen Brief an

23
Hartknoch deshalb mitgeben zu können, wozu er sehr bereitwillig war. Aus

24
seinen widerholten Besuchen ist aber nichts geworden. Sonntags war er, wie

25
er mir zuvorkam bey einem
D.Gräff,
Pfarrer beym Dohm, eingeladen, den

26
er in Landsberg gekannt. Seine Frau soll eine sehr artige und muntere

27
Sächsin
sein
, ich meldete, daß ihr Bruder unser
Provincial Receveur
wäre,

28
ohne daß ich mich auf seinen Namen zu besinnen
im stande war
, der ihm

29
aber auch unbekannt zu seyn schien.

30
Die Witterung ist heute so feucht und kalt, der Weg so beschwerlich, daß

31
ich keinem ehrl. Mann diese Mühe zumuthen kann. Heute ist der dritte Tag,

32
daß ich genommener Abrede nach, zu Hause bleiben will. Morgen früh bin

33
ich willens ihn aufzusuchen. Hätte er das
Tableau naturel
mit sich geführt,

34
wie ich aus seiner Parteylichkeit für
S. M.
vermuthete, so wäre es mir

35
lieb gewesen es in einigen Stunden verschlingen zu können. Ich werde aber

36
nicht ruhen, biß ich wenigstens die Uebersetzung hier auftreibe. Ich war vor

37
Freuden des Mittags u Abends ein wenig aufgebracht und dummdreist, daß

S. 168
ich leicht zu einem Misverständnis Anlaß gegeben haben kann, welches ich

2
gern wider gut machen möchte. Entweder zu auffahrend gegen Leute die mir

3
gefallen u denen ich mich gantz mittheilen möchte oder zu niedergeschlagen

4
gegen solche, für die mein Blut nicht redt – am meisten bey ersten

5
Bekanntschaften. Wie gern ich ihn sehen möchte, und wie ungern ich mich

6
jemanden aufdringen mag!

7
ah miser,

8
Quanta laboras in Charybdi!


9
Nun versteh ich leider! Seelen Franz, was
L.
mit Ihrer
tödlich

10
peinlichen Lebensart
sagen will. Ein solches Fegfeuer kann kaum

11
ein Salamander aushalten, aber kein Menschenkind von Fleisch und

12
Blut. Es muß Ihnen bey einer solchen Feendiät nichts als Haut und

13
Knochen und ein homerisches Ichor, Götter- und Nervensaft übrig bleiben.

14
Haben Sie mit
s
Sich Selbst, mit der jungen Mutter in Hofnung, Ihrer

15
Familie und Nachwelt Mitleiden, und entwöhnen sich von einer solchen

16
widernatürl. und künstl. Ammenzucht. In einem solchen Treibhause und

17
Backofen, wozu Sie Ihren Leib machen, kann kein animalisches
Leben
in

18
petto,
weder Franzchen noch Marianchen gesund zur Welt kommen. Sie

19
müßen
nolens volens,
zum Gebrauch der
freyen
Luft und des
kalten

20
Waßers freylich Schritt vor Schritt, wider zurückkehren, um fest und warm

21
zu
werden

22
Unser
J.
laborirt auch an einer verzweifelten
Au
transcendentellen

23
Autorkolik. Ich habe ihm gerathen um dieser Grillen los zu werden

24
nach Münster zu gehen. Er ist ein junger artiger Witwer, und ein Verehrer

25
Ihrer Marianne. Ich gebe Ihnen also den Rath auf Ihrer Hut zu seyn und

26
ein wenig eifersüchtig zu werden – – Das erste beste Blindekuhspiel einer

27
Leidenschaft ist ein
souverain
es Mittel gegen alle
speculation
und

28
künstliche Einbildungen.

29
Da Sie an meiner kleinen Autorschaft Antheil nehmen: so liegt mir die

30
berlinsche Recension des Golgotha im 1 Stück des 63 Bandes
No III.

31
S. 33–37 wie ein Stein auf oder unterm Herzen. Ich und Jacobi sind

32
Consorten; der eine hat
Mendelss.
zum Atheisten, der andere den seel.

33
Leßing zum Spinozisten erklärt. Wir müßen also als gleiche Brüder auf

34
gleiche Berl. Kappen gefaßt machen. Dieses gemeinschaftliche
Autor-intereße

35
waltet gegenwärtig unter uns. Ich wünschte sehr zu seiner Ruhe und Ehre,

36
daß er sich um nichts eher bekümmern und auf keine andere Antwort sinnen

37
möchte, bis der zweite Theil der Morgenstunden herausgekommen wäre,

S. 169
auch sich schlechterdings an den
Biographen
hielte, mit dem er es

2
eigentlich aufgenommen. Unterstützen Sie diesen Rath –

3
Ich kündige Ihnen also hiemit, mein auserwählter und gewünschter

4
Frantz,
eventuellement
die Sechswochen meiner Muse an – Meine

5
jüngste Schrift
ist mir sauer geworden, daß es mir mit dem
Spiritu
des

6
Christentums u Lutherthums gieng
ceteris paribus
wie dem großen
Montesquieu

7
mit seinem Witz der Gesetze:
Bis patriae cecidere manus
– – Vielleicht hilft

8
mir mein
eigensinniger
Genius
diesen Benoni in einen Benjamin zu

9
verklären, daß ich mit einem fliegenden Briefe unter dem Arm vor Ihnen

10
und Ihrer Marianne Antlitz erscheinen kann. Unser Leben ist ein Dampf,

11
der eine kleine Zeit währet und verschwindet. Anstatt also zu sagen:
Heute

12
oder morgen wollen wir gehen in die Stadt
,
und wollen ein

13
Jahr da liegen
– will ich mit dem H. Jacobo sagen:
So der Herr

14
und wir leben
,
wollen wir dies oder das
– – Gott weiß allein

15
und am besten was? thun.

16
Nun, mein Seelen Franz, scheuen Sie weder Luft noch Waßer, um die

17
Rolle eines eifersüchtigen Mannes recht fein zu spielen, und laßen Sie ja bey

18
den
respectiv
en Hauptpersonen nichts merken, daß ich sie Ihnen verrathen

19
habe:
Es ist doch alles in guter Meinung und Absicht geschehen.

20
Gott gebe, daß wir 86 zu Weynachten zusammen singen:
Uns ist

21
geboren ein Kindelein
– – Vorigen Mittwoch schrieb mir Lindner aus

22
Jena, wo es ihm so gefällt, daß er noch an keine Rückreise denkt. Vielleicht

23
geht er nach Engl oder Holland – oder Parisius in Ihre Nachbarschaft. Ich

24
erwarte mit der grösten Ungedult Ihren
Statum
– so lebhaft ich mir auch die

25
Desorganisation
eines
Heautontimorumenen
vorstellen kann, und daß alle

26
Ihre Uebel im Grunde
passables
und
reparables
sind, wenn Sie nur Herz

27
gnug haben zur
einfältigen
und
unschuldigen Natur
zurückzukehren.

28
Sie ist die herrliche Tochter und
gebenedeyete
Mutter der Gottheit, und

29
Marianne
sey
I
ihr
Bild Ihnen im Spiegel! Friede und Freude, Seegen

30
und Gnade zum Neuen Jahre. Es werde zur neuen Epoche des Heils – und

31
erfülle unsere gemeinschaftliche Wünsche zur Evidenz und
Energie

32
Ich ersterbe mit den meinigen

33
Ihr
vaterlich
gesinnter
pp
Johann George.


34
Auf dem Adressblatt:

35
den 5. des Abends um 6
Uhr

36
Eben hatte ich diesen versiegelt, um ihn noch heute zum Einschluß

37
befördern zu
können
wie der Major in meine Stube trat, und mir eine der

S. 170
seeligsten Stunden
machte. Er ist in dem hebr. und gr. Testament

2
mehr zu Hause denn ich. Ich habe ihm auch die philosophischen Vorlesungen

3
des vortreflichen
Pfenni
n
gers
empfohlen – und kann mich noch nicht

4
von meiner Begeisterung erholen. Hill wollte mit Raphael und Michael eben

5
die Psalmen vornehmen, sich im Ital. u Arabischen üben. Ein solches

6
Phänomen war die beste Lection für meine junge Leute! und ein Beyspiel zur

7
Nacheiferung. Gott begleite ihn! Morgen bringe ich ihm Briefe an

8
Hartknoch u
Kant
. Mit welchem Taumel wird mich noch mal Ihr Anblick

9
berauschen. Solang ich Gefühl für Menschen u Bücher hab, lebe ich noch!

10
DEVS
vobiscum – Amen

11
den 5
Xbr.
85.


12
Adresse mit Siegelrest:

13
HErrn / Franz Buchholz / Erbherrn von Welbergen / zu /
Münster.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841 m.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 296 f..

Ludwig Schmitz-Kallenberg (Hg.): Aus dem Briefwechsel des Magus im Norden. Johann Georg Hamann an Franz Kaspar Bucholtz 1784–1788. Münster 1917, 77–84.

ZH VI 165–170, Nr. 901.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
165/24
Officier
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Officier
166/2
Aufenthalts
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Aufenthalts,
166/5
Me C.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Me C
ourtan
167/7
S. M.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
S
aint
M
artin
167/34
S. M.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
S.M
artin
168/9
L.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
L
avater
168/17
Leben
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Wesen
168/21
werden
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
werden.
168/22
J.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
J
acobi
168/27
speculation
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Speculation
168/32
Mendelss.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Mendelss
ohn
168/34
Autor-intereße
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Autorintereße
169/19
habe:
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
habe.
169/25
Heautontimorumenen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Heautontimorumen
en
169/28
gebenedeyete
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gebenedeyte
169/29
I
ihr
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ihr
169/31
Energie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Energie.
169/33
vaterlich
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
väterlich
169/33
pp
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
pp.
169/35
Uhr
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Uhr.
169/37
können
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
können,
170/8
Kant
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Arndt
170/13
Münster.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Münster