908
191/6
Düßeldorf den 20
ten
Xbr.
1785


7
Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):

8
Erh.
den
31
Xbr.
85

9
Geantw.
den
1. 2 Jan. 86. 
No
20.


10
lieber Vater Hamann

11
Ich war Willens meiner Sudeley v Freytag heute einen Nachtrag nach

12
zu schicken, weil ich vieles zu flüchtig, einiges gar nicht berührt hatte; aber

13
ich war alle die Tage gar nicht wohl, u bin heute beynah krank. Hätte also

14
gar nicht geschrieben, wenn nicht ein Brief v Lavater gekommen wäre,

15
wovon ich Ihnen durch
g
aus gleich eine Abschrift schicken mußte. Ich hatte

16
Lavatern wegen eines Auftrags Nachricht zu geben; meldete
ihn
bey der

17
Gelegenheit, daß Leuchsenring, der jetzt in der Schweitz, vielleicht bey ihm in

18
Zürich wäre, denen Hyper-KryptoJesuiten zu Berlin, alle ihr Geschwätz

19
über die
Prolesitenmacherey
eingeblasen hätte. Berührte hiernächst den Brief

20
an Markard, gemäß denen Nachrichten der Hamb. Zeitung, weil ich den

21
Nov der Berl. MonathSchrift noch nicht hatte. Fragte, warum er wieder

22
so schnell gewesen wäre; er sollte immer der letzte seyn dergleichen

23
Nachrichten zu geben, u es könnte nie zu irgend etwas gut seyn, daß er der Erste wäre.

24
Fragte, wie es mit der Publikation dieser Briefe zugegangen wäre; ob sie

25
ohne seine Schuld u gegen seinen Willen geschehen sey. – Die Abschrift die

26
ich Ihnen schicke ist hierauf die Antwort.

27
Gestern Abend erhielt ich endlich den November der Berl MonathsSchrift.

28
In
meinen
Augen ist die Antwort des Hofraths
nicht
ohne Tadel. Sie

29
ist v Anfang bis zu Ende mit der Absicht geschrieben, die Sache in den Druck

30
zu geben. Was er über Philosophie sagt ist
s
Sophisterey, denn wo ist die

31
Grenze der Spekulation, wenn die Philosophie nur sich selbst zur Unterlage

32
hat, u zum Gegenstande einzig u allein unser Fleisch u die Oekonomie seiner

33
Lüste u Begierden? Daß man nur für seinen Leib sorge, das u nicht anders,

S. 192
verstehen sie unter dem gesunden Menschen Verstande. – Die Publication

2
der Briefe ist v den Berlinern nach der Maxime des Cicero geschehen:

3
servanda fides, nisi violetur regnandi causa.

4
In Beziehung auf meinen Brief an Kleucker muß ich noch sagen, daß ich

5
zu keinem Orden gehöre, zu keinem nie habe gehören wollen. Ich denke über

6
diesen Punkt gerade wie Garve
*
, deßen Epistel, die Complimente

7
ausgenommen mir sehr gefallen hat.

8
Sie schrieben mir neulich von politischen Charaktern, wie denen mein

9
Spinoza Büchlein entgegen käme, u fügten hinzu: „Da ich mehr auf das

10
Intereße Ihres Herzens u Ihrer ganzen Seele Antheil nehmen muß, so sehe ich

11
manches in einem ganz andern Lichte u Zusammenhang an, u mache mir

12
Grillen, die vielleicht eben so wenig Grund haben.
– Können Sie mir nicht

13
sagen, was das für Grillen sind.

14
Die heutige Post hat mir ein liebes Briefl v unserm Buchholtz gebracht. Er

15
spricht darin von einem andern Briefe den er mir geschrieben habe, u der nicht

16
in meine Hände gekommen ist. – Fahren Sie fort ihm Luft u Waßer

17
nachdrücklich zu empfelen.

18
Ich hoffe bald zu hören daß Sie würklich daran sind die Novitzen des

19
Pater Brey ihre Residenz halten zu
laßen.
– Am Sonnabend las ich

20
Blumauers 42
te
Beylage zu Nikolais Reisebeschreibung, u hatte große

21
Lust. Dies Pamphlet, da
ß
s schon im Jahr 84 gedruckt ist, war mir nie

22
zu Gesicht gekommen.

23
Leben Sie wohl, lieber HerzensFreund! –

24
Ihr Fritz Jacobi


25
Adresse:

26
An den Herrn / Johann Georg Hamann / zu / Koenigsberg /
Frco


27
Vermerk von Hamann:

28
Erhalten
den 31
Xbr.
85

29
Geantw. den 1. 2
Jänner
86


* u lange vor ihm Sokrates gedacht
hatte.

Dem Brief lag ein Auszug aus einem Schreiben Lavaters an Jacobi bei, 14. Dezember 1785, in der Abschrift Schenks:

S. 1
Aus einem Schreiben von Herrn Lavater

2
an Herrn Fried. Heinr. Jacobi.

3
Zürich, den 14ten
Xbr.
1785.

4
Ich
habe kein Wort von dem Magnetismus wollen denken laßen, hab’ auch an

5
dieser Publikation dieser Correspondenz keinen Theil, schreibe deswegen

6
heute noch an Markard – also! – – – Man erlaubt sich alles gegen mich, was

7
man mir nimmermehr verzeihen würde. Das macht aber die Aufklärung – und

8
die Vertreibung des Aberglaubens – an das
abc
der Moral: was du nicht willst,

9
daß es dir gethan werde, das thu’ auch andern nicht. Wohin die Herren alle

10
mit ihrer Moral und Religion noch kommen werden – weiß ich nicht, und will

11
nicht wißen. Ich will Kind bleiben, und immer mehr Kind werden.

12
Vorgestern las ich auch die
Herzenserleichterung
zweener Freunde der Nacht

13
und der Lüge, die sich Lichtfreunde und Wahrmunde nennen – fast mit zuviel

14
Gleichgültigkeit –. Ich hätte vielleicht weniger verachten und mehr weinen

15
sollen über die Schalkheit und Schrofheit dieser Lichtscheuen Anonymen,

16
und ihren armseeligen Zweck, dem Evangelium auf einem Armensünderrücken

17
wehe zu thun. Wenn diese Schalkheit Tugend, dieser Geist – Religion ist,

18
so entsag’ ich aller Tugend und Religion. – –

19
Lieber Jacobi! welch ein negatives Jahrzehnt ists! welche Herrn negativer

20
Menschen. Alle rauben, niemand will geben – alles zerstört: niemand will

21
bauen – Man lacht über alles, und weint über nichts mehr! Kein Ernst, alles

22
Leichtsinn; keine Würde alles Neckerey – kein Zweck – alles Nebenabsicht!

23
und das Schlimmste von allem – daß der allerdummste und schiefste

24
Schriftsteller – der Ungerechtigkeit, Schalkheit, Lüge sogar affischiert –

25
sogleich seine ganze Welt findet, sobald er wider Christus und Evangelium

26
dezidiert – das intolerabelste aber von allem intolerabeln ist, daß solche

27
Geist und Herzlose Höhner des Allerheiligsten, noch durchaus als Christen

28
angesehen seyn wollen! welchen Mann mit Engelsberedsamkeit, mit Jesaiasernst

29
und Paulusweisheit wird Gott endlich einmahl erwecken zu zeugen wider diesen

30
Greuel
der
Verwüstung
,
der
am
heiligen
Orte
steht
!

31
Schon 4 Wochen und mehr ist
Leuchsenring
hier. Gott! was soll ich von diesem

32
Manne sagen, um ihm nicht unrecht zu thun und doch auch etwas über ihn zu

33
sagen, was warnend oder belehrend seyn kann. Weniger Menschen Umgang ist

34
so belehrend für mich, wie der Seinige – (Seit bald 3 Wochen sehen wir uns

35
nicht mehr – wenigstens allein) und wenige Menschen kenn’ ich, die schiefer

36
über gewiße – und gerader über andre Punkte sehen, als Er. Aber
Ruhe
und

37
Demuth
Einfalt
und
Sicherheit
kann ich nicht in Ihm finden. Der erste Eindruck

38
beym diesmaligen Widersehen war so gleich
Belaurungslist
. Er wollte arbeiten,

39
mich von dem Krypto-Jesuitismus, sein itziges Steckenpferd, zu warnen. Er

40
spricht gerade so, wie die edeln Biester, Nikolai, Campe, und – das ganze

41
Modeheer der leichtglaubigsten Philister – alles kommt aufs Antichristenthum

42
heraus – man mags zehnmahl von allen Seiten betrachten. Die Herren wollen

43
alle nicht, daß Christus über uns regiere – machen die allerkünstlichsten

44
Systeme und sprechen von Kindereinfalt. Je feiner er mir schien, desto

45
gerader und ehnlicher war ich gegen ihn. Jetzt hält Er sich unaufhörlich an

46
Meister und Comp. – und thut sehr wohl daran – Jammerschaden daß ein Mann

47
von seiner Empfindung, seinem Blicke so in der Welt herumläuft, um –

48
allenthalben zu proselytisieren – und die denen kein Gedanke dran kommt,

49
als Erzproselytisieren herum zutragen. So lang ein Herz in meiner Brust

50
schlägt wird Gott mich bewahren solcher Menschen Jünger zu werden, obgleich

51
ich mir ihren Umgang, den ich nie suchen und nie fliehen werde – möglich

52
zunutz zumachen suchen soll.

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

ZH VI 191 f., Nr. 908.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 290 f. (Anhang ebd., 278–280).

Zusätze fremder Hand

191/8
–9
Johann Georg Hamann
192/28
–29
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
191/8
den
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
d
191/9
den
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
d
191/9
No
20.
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
191/16
ihn
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ihm
191/19
Prolesitenmacherey
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Proselitenmacherey
192/19
laßen.
]
In ZH mit Absatz dahinter.
192/26
Frco
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
192/28
Erhalten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Erh.
192/28
Xbr.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Xbr.
192/29
Jänner
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Jan.
192/29
86
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
86.