910
194/5
Am Weynachts heil. Abend 85.
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Vermerk von Jacobi:
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Ankündigung des fliegenden Briefes
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Sind Sie nicht mehr mein Jonathan? Ich bin 2 Posttage selbst bey
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unserm
Entreposeur
gewesen, und habe heute den Hill geschickt, der in der
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Nachbarschaft wohnt, mir eine Einlage zu bringen, wenn eine da wäre. Es
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ist schon gegen 10 Uhr Vormittage, und er kommt nicht; so nöthig auch
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einen Trunk kalten Waßers von Ihrer und B. Hand hätte. Nichts als
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altum silentium.
Ich bin diesen Mittag zu Hippel gebeten, bey dem
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Scheffner angekommen – mein Michael soll mich entschuldigen. Die Kälte geht mir
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nahe – Hartknoch hatte zu Ostern den frommen Einfall mir einen alten
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Peltz zur Reise zu verehren, der mir sehr wohlthätig ist: sonst wäre ich gar
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nicht im Stande auszugehen, und müste schlechterdings die
K
Stube in
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meinem Katzenpeltz hüten. Ich fühle jetzt mehr wie sonst, daß mein alter
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Kopf unter der Vormundschaft des verdorbenen Magens steht, habe
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schlaflose Nächte, und habe gestern den ganzen Tag nach 2 Biergläser mit
Sal
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Glauberi
laufen müßen.
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Woher kommt Ihr u B.
altum silentium?
Ist letzterer mir böse
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geworden, daß ich ihm die Wahrheit wegen seiner
Diät
gesagt, die er freylich als
24
eine
alteram naturam
säuberlich behandeln muß. Es ist doch mit den
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Wochen seiner Marianne nicht so weit gekommen, als mit den Geburtsschmerzen
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meiner Muse und Autorschaft, der es beynahe wie der
Rebecca
geht mit
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ihrem
Bennoni
oder Benjamin. Ich nehme jetzt meine Abschiedsaudientz von
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Niemand
dem
Kundbaren
, und der Keßel meines brennenden
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Gehirns schäumt so entsetzlich, daß ich beyde Hände nöthig habe den Unrath
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abzuschäumen und das Ueberlaufen zu verhindern. So was
Panisches
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haben Sie weder gelesen, noch im Rabelais oder Tristram Shandy
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gefunden – Es ist nicht mehr die Stimme eines Predigers in der Wüsten, sondern
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des dreyköpfichen Höllenhundes
Cerberus.
Es ist eine wahre
S. 195
Feuertaufe
, die über die Philosophen und Chaldäer in Babel regnen wird. Kein
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Jupiter pluvius
wie in der Beylage der Sokr. Denkw. sondern ein
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Schwefelregen über Sodom u Gomorrha. Ich liege beynahe der Wuth
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unter, die in allen meinen Adern pocht und tobt, und erschrecke vor meiner
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eigenen
Kraft
, die einem hitzigen Fieber ähnlich ist, und mir selbst nicht
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natürlich vorkommt.
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Es ist nicht Schertz, sondern
Ernst
mit dem ich Ihnen, lieber
Jacobi
,
8
die Schwachheiten meines Herzens anvertraue. Sie wißen meinen ganzen
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Plan, und ich habe Sie zum
Theilnehmer
, zum innigsten deßelben
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gemacht, und erwarte auch Ihren Beystand zur Ausführung.
Aut – aut –
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Stillschweigen stockstill – oder Himmel und Erde bewegen. Das erste steht
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noch immer in meiner Gewalt und beruht auf meiner Willkühr – Ich
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besorge aber daß ich in meiner Arbeit, die das Maas von 3 Bogen nicht
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übersteigen kann – denn ein solches
Specimen
muß seiner Natur nach kurz seyn,
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und selbst die Natur des Lesers erfordert
Kürze
, das feinste Crystall zu
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Spitzgläsern, keine engl.
Punsch-Schaalen
. Ich will dies
monumentum
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meiner Autorschaft wohl anbieten meinem Landsmann Hartknoch, kann ihm
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aber weder den Verlag zumuthen noch anrathen, weil es ein
salto mortale
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wenigstens seyn soll, auf den ich mich lange vorbereitet – und mein ganzes
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bisher im Dunkeln getriebenes Federspiel entscheiden soll zu einem seel.
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Ende
un
d
Punctum saliens
eines
beßeren Lebens
. Ich beschwöre
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Sie also bey aller unserer Freundschaft, lieber Jonathan, mir mit der ersten
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Post zu melden, wo Ihr Spinoza Büchlein gedruckt worden, und ob Sie das
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Herz und die Barmherzigkeit dieses letzten Freundschaftsdienstes für mein
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noch ungebornes Kindlein zu übernehmen, es mit aller nur mögl.
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menschlichen Vorsicht und Verschwiegenheit zur Welt zu bringen. Ich verlange
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mehr nichts als eine reiche Anzahl Exemplarien für meine und Ihre Freunde
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in memoriam.
Die Liste der ersten werde dem
Mst
beylegen, sobald es fertig
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ist zum Ueberschicken, auf Ihr deutsches
Jawort
.
Alea iacta
est
und der
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Rubicon
wird kein rothes Meer seyn. Allso kein politisches
Schone Dein
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selbst
! meinem festen Entschluß
entgegen gesetzt
, sondern ein
eben so
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man
n
haftes
Legatur
zu meinem
Scripsi.
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Ich erwarte mit allernächster Post Ihre Antwort mit der deutlichsten
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Umständlichkeit
, um meinen eigenen
Detail
darnach bestimmen zu
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können. Machen Sie auf allen Fall, alles fertig zur pünctl. Execution
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meines letzten Autorwillens, und werden Sie mir keine feige Memme aus
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Freundschaft oder
Super
klugheit. Ein Mann, der sich 25 Jahre bedacht hat,
S. 196
ist befugt,
peremto
risch u ein wenig
dictato
risch zu Werk zu gehen bey einer
2
so
bösen
und
kurzen
Zeit. Der letzte Schlag ist dem
Helden
vielleicht
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näher als mir, oder wir sind beyde gleich
recht
. Ich werde eilen – und Sie
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auch, als mein
General-Lieutenant.
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Vergeßen Sie aber deshalb nicht mir auch zu melden, was mein
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Alcibiades Buchholtz und seine junge Marianne macht; ob sie schon anfängt ihre
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Feengestalt zu verrathen. Wenn Sie eine
Xantippe
wird, so ist der welsche
8
Champagner
Schuld daran, der den schwangern und unsichtbaren Engeln
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nicht gut ist. Meine
Diät
wird mir auch verflucht sauer; aber zu meinem
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Exorcismo
der unreinen Geister die ich austreiben will, muß ich reines
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kaltes Waßer und mein Kämmerlein dem öffentl. Gottesdienst vorziehen
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müßen. Den 2ten Theil der philosophischen Vorlesungen habe durchgelaufen
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und bin eben so zufrieden als mit dem ersten; desto ungedultiger auf den
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dritten. Sonst habe nichts gelesen als den dritten Theil der Büschingschen
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Biographien, die Ihnen auch empfehle. Scheller ist bey seinem alten wunderl.
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Senior
in Petersdorf, und wird wie ich gehört auf Neujahr
introducirt
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werden. Wenn er von da über Königsberg durch mein dunkles Kämmerchen
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wider nach Graventihn gehen wird, um seine Sachen und Ausstattung von
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da aus gerade in seine
Adiunctur
zu bringen
wird
weiß ich nicht.
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Mein Nachbar u Artzt, Miltz, besucht mich und macht mir Hofnung noch
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ein Kindelbier zu erleben, auf dem er sich selbst zu Gaste gebeten. Besorgen
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Sie mir, lieber J. eine gute Säugamme für die unzeitige Geburt meiner
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saturninischen Vaterschaft. So warm wie er mir abgeht, sollen Sie den
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kleinen
Phosphorum
meiner
s.v. vulua
erhalten, bitte mir aber den
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richtigen Empfang und
Transport
ins Reich der schwarzen Kunst des Lebens zu
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bescheinigen.
Das
Mst.
das ich Ihnen zum Heil. Christ oder
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Neujahrsgeschenk gewiedmet habe ist kein Kinderspiel, sondern der ganze Schatz meines
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Kopfs, meines Herzens, und sämtl. Eingeweide die
Pudenda
nicht
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ausgeschloßen.
Also entsprechen oder antworten Sie bald meiner Ungedult.
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Getrieben vom freundschaftl. Rath meines Artzts und durch eine sehr
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herrliche Mahlzeit von einigen Löffeln grauer Erbsen, von denen ich selbst
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einen Scheffel
à
2 rth eingekauft mit einem ℔ Kalbfleisch in einer Kranken-
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Suppe und einem
Paar
Semmel für
3
2
Schilling – woraus sich mein gesunder
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Appetit errathen läßt – gestärkt eile ich diesen Brief zu beschließen, von
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meiner Amtsstube zum
Dessert
der beyden Kriegsräthe und mit meinem
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Ascanius
zur
Dido Courtan
auf ein Schälchen
Caffé
– Uebermorgen, am
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letzten
olim
mittelsten Feyertage ist meine
Lisette Reinette
und Louischen
S. 197
Miltzin zu Gaste, wird daher kaum am Schreiben zu denken seyn. Gr.
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Stolberg soll von Petersb. wirkl. abgereist seyn, aber noch nicht hier – Die
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holde Elise mit ihren beyden Nymphen auch nicht. Nachricht aus
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Wandsbeck auch nicht weder durch Sie noch sonst woher. Hoffe daß alles glückl.
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überstanden ist – und wenn ich was in Münster verdorben haben sollte, es
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gut zu machen bis ich mich selbst rechtfertigen kann mit odyßeischer Klugheit.
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Leben Sie wohl, lieber Geschäftsträger! und machen Sie, daß ich mit
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Ihnen auch künftiges Jahr zufrieden seyn kann: sonst hört alles mit dieser
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Neige
auf. Vor allen Dingen schenk Ihnen Gott Gesundheit,
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wenigstens so erträgl. wie wir uns hier zu erfreuen haben ohn all unser
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Verdienst u Würdigkeit, durch Göttl. Gnade, Barmherzigkeit u Langmuth.
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Halt Ihre liebste Schwester Helena nicht Nachbarschaft mit der
M.B?
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Wie pfiffig unser alte Kant den 2 Theil des Herders recensirt hat, auch Ihre
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Erinnerungen an den Mann gebracht. Meine letzte Einl ist doch wohl schon
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unterwegs nach Weimar. Nach Zürich kann noch nicht schreiben. An unsern
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Hill wird auch
d
gedacht von oben her, und eine
eventuelle Vacantz
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unserer hohen Schule in der Mache u Arbeit. Gott seegne Ihr Haus mit allem, was
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ich mir selbst u den Meinigen – auch zu Ihrer Empfehlung – wünsche. Wenn
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meine schwere
patriae manus
nicht sinken: so jauchzen wir Triumph und
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Sieg über Amalek. Unterstützen Sie selbige durch gute Nachrichten u leben
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Sie recht wohl
in secula seculorum.
Amen.
To be or not to be
–
Non
22
omnis moriar.
Mehr zum Neuen Jahr, so Gott will und wir leben. Aber
23
vor allen Dingen
Antwort
, auf die man bauen kann wie auf einen
24
Felsen
, wenn es zum
Bauen
komt.
Aut nil aut
παν
.
25
Joh Georg H.
26
Adresse:
27
An / HErrn Geheimen Rath
Jacobi
/ zu /
Düßeldorf
. /
Fco Wesel
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Vermerk von Jacobi:
29
Koenigsberg den 26
ten
Xbr
1785
30
J. G. Hamann empf. den 5
ten
Jan 1786
31
beantw. den 6.
ten
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 162–166.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 292–296.
ZH VI 194–197, Nr. 910.
Zusätze fremder Hand
|
194/7 |
Friedrich Heinrich Jacobi |
|
197/29 –31
|
Friedrich Heinrich Jacobi |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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194/7 |
Ankündigung […] Briefes] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ankündigung des fliegenden Briefes. |
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194/27 |
Bennoni ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Benoni |
|
195/7 |
Ernst |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ernst , |
|
195/16 |
Punsch-Schaalen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: PunschSchaalen |
|
195/29 |
est |
Geändert nach der Handschrift; ZH: est, |
|
195/31 |
eben so ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ebenso |
|
195/31 |
entgegen gesetzt ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: entgegengesetzt |
|
196/3 |
recht ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: reif |
|
196/19 |
Adiunctur |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Adiunctur |
|
196/26 –29
|
Das […] nicht ausgeschloßen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
196/33 |
3 2 ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: 2 |
|
196/33 |
Paar ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: paar |
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197/12 |
M.B? ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: M.B.? |
|
197/27 |
Fco Wesel |
Hinzugefügt nach der Handschrift. |