913
207/16
Kgsb. den 1 Jänner 86.

17
Walt’s Gott!

18
Der alte Görgel fängt das Neue Jahr
an
, wie er das alte beschloßen.

19
Der erste Brief den ich schreibe ist an Sie, lieber J. Gestern frühe erhielt Ihren

20
letzten nebst copeyl. Beyl. Die Stunde drauf ließ sich der Graf F.L.

21
zu Stolberg melden, der den vorigen Abend angekommen war und nicht den 29 nach

22
dem
Rapport
zedel, den Hippel mir eine Stunde zuvor zugeschickt hatte. Ich

23
hatte eine vergnügte Stunde mit ihm, er fuhr zu den Zwillingsbrüdern der

24
Lebensläufe, wollte zu Mittag bey Kayserling speisen und nach dem Eßen

25
gleich abreisen. Gott begleite Ihn! Ich schrieb ein paar Zeilen an

26
Claudius.
Ihr Brief und dieser Besuch sind der einzige Trost für mich gewesen

27
zum Beschluß des alten Jahrs. Der Pf Scheller überraschte mich vorigen

28
Donnerstags gantz spät
und
wird in ein Paar Tagen nach Graventhin und

29
von da mit Hack
u
Pack nach Petersdorf ziehen und den 22 d. daselbst

30
i
ntroduci
rt werden. Die Kälte verbiethet mir das Ausgehen, und mein

31
Magen hat einen guten Willen mehr zu begehren, als er vertragen kann. Ich

32
lebe also
entre chien et loup
und kann weder arbeiten noch feyren.

33
Da schicke ich Ihnen
pro arrha
die ersten beyden Blätter meines

S. 208
Brouillons.
Der
Radius
der letzten Seite zeigt, daß ich damit noch gar nicht

2
fertig bin, auch nicht zufrieden seyn kann. Es ist Ihnen also erlaubt und Sie

3
werden recht darum gebeten mit Ihrer Unzufriedenheit nicht hinter dem Berge

4
zu halten. Sie sehen daß ich wenigstens auf dem Wege bin zur Sache, das

5
heist zur
Recension
selbst als dem
Corpore delicti
zu kommen. Werde ich

6
damit fertig, daß sich doch wohl diesen Monath, so Gott will ausweisen

7
muß: so dächte ich wegen der ersten langen Noten, welche bald aufhören

8
werden, je weiter ich in den Text komme, daß sich das
Qvarto
Format beßer als

9
ein klein
Octav
schickt. Es ist mir nichts
verdrüßlicher
als wenn die Noten

10
zu weit in die Seiten des Texts übergehen. Dieser Uebelstand wird durch

11
ein größeres
Format
vermieden. Glückts mir das Ideal meines Gehirns

12
darzustellen, so mag es auch kein
folio,
wie die
Funerali
en seyn! Aber

13
lieber Fritz
! kein Blatt vors Maul genommen – denn nun ist es noch Zeit

14
zu reden, und für mich, noch zu hören.

15
Wenn das Ende meiner Autorschaft so gut wie der Anfang gewesen: so ist

16
mir mein Loos lieblich gefallen. Daß ich das verdeckte Gericht nun aufdecken

17
werde, versteht sich. Ich habe die Litteraturbriefe nicht selbst, erinnere mich

18
aber daß man dem Ausgang der Sokr. Denkw. eben die Causticität

19
vorrückte, die man am Golgatha tadelt. Daß ich aber Ursache habe
grämlich

20
zu seyn, will ich mit
Xenophontischer Simplicität
auch erzählen,

21
wenn ich erstmal den Leser durch
Leibnitzische Erhabenheit

22
philosophische Ideen und
Roußeauische Wärme
der Beredsamkeit ein wenig

23
werde vorbereitet zu haben zur
Entwickelung des Knotens
– – –

24
Daß dies schlechterdings unter
uns beyden
bleiben muß, versteht sich

25
von selbst, Ihr
Factotum
nicht ausgenommen von dem ich nicht weiß, ob er

26
Ihr alter Hausfreund, der Hofmeister Ihrer lieben Kinder oder was er

27
eigentl. ist – oder der schöne
amanuensis
Ihrer copeyl. Beyl.

28
In dem Briefe v. B. den Sie vermißen, ist doch keine Einl. an mich

29
gewesen. Sein Stillschweigen entschuldigt das meinige und ich bin recht sehr

30
damit zufrieden. Geben Sie ihm aber einen Wink, daß ich theils aus

31
Kränklichkeit theils aus einer analogischen Verlegenheit meiner alten Muse mit

32
seiner M. …zwar für ihn aber nicht an ihn schreibe. Sie haben hierüber

33
Carte blanche
Ihm zu sagen was Sie wollen Ernst oder Scherz.

34
Der Durchreisende hat mir vielleicht ansehen können, daß ich arbeite, und

35
ich habe ihm auch kein Geheimnis daraus gemacht. Arbeiten und krank seyn

36
ist
sind für mich
Synonima,
wie gesund seyn und nichts fühlen vom Fluch

37
der Erde. Einem Gesunden ist Arbeit wahre Ruhe und Zeitvertreib.

S. 209
Er kennt auch unsers L. Correspondenten als einen Mann von viel

2
Talenten, aber einen affectirten Nachahmer des Rhapsodisten von der

3
Einsamkeit. Sie mögen die zum Druck geschriebene Antwort tadeln so viel Sie

4
wollen.
Ich lobe mit dem Hausvater den ungerechten Haushalter der

5
klüglich
handelt. Unserm Freunde geschieht dadurch im Grunde mehr Wohl als

6
Weh. Warum will er nicht glauben, es sey denn, daß er
Zeichen
und

7
Wunder
sieht,
die vielleicht eben so wenig beweisen, als die Begriffe

8
a priori
das Daseyn.
Ich schwöre es Ihnen zu daß meine Freundschaft für

9
L. durch diese Treuherzigkeit gewonnen und zugenommen. Gehört das

10
Antichristentum
nicht zum Plan der göttl. Oekonomie? Wenn das Rindvieh

11
beyseit austritt, wird man denn die Bundeslade gleich für verloren halten

12
und die Hand, wie Usa, darnach ausstrecken?


13
den 2 Jänner.

14
Ich habe die beyden ersten Nächte dieses Neuen Jahrs elend geschlafen,

15
und sehne mich allein zu seyn. Ich habe so abscheuliche Auswüchse und

16
Ueberbeine in meiner ersten Abschrift gefunden, daß ich eine andere habe

17
umschreiben müßen. Ob ich dadurch gewinnen werde den rechten Schlüßel und Ton

18
zu finden, weiß ich nicht. Ich werde alle Augenblicke auf Abwege hingerißen,

19
in
die
denen ich mich
verwildere

20
Diesen Nachmittag erhalte die Allgemeine
Letteratur
Zeitung, und das

21
erste Blatt war eine Beurtheilung des vierten Theils von Pilatus, wo auch

22
mein Name vorkommt. Ich wünschte daß unser liebe Freund diese gantze

23
Recension
beherzigen
möchte. Ich kann dem
Recen
senten nicht gantz

24
Unrecht geben. Sie fragen mich, liebster J. nach Grillen, die ich bey einer

25
Stelle gehabt habe, und auf die ich mich nicht mehr besinnen kann. Mit einem

26
alten kranken Mann geht es bisweilen oben, bisweilen unten nicht richtig zu.

27
Gott gebe, daß meine künftige Briefe und Beylagen beßer gerathen, als

28
dieser Anfang; doch ich schäme mich nicht, Sie zum Vertrauten meiner

29
Thorheiten zu machen.

30
Ich umarme Sie, erfreuen Sie
mich
bald mit Nachrichten einer völlig

31
widerhergestellten Gesundheit. Zwey Spinnräder und das welsche Geschrey

32
meiner 3 jungen Leute neben mir, die im
Metastasio
lesen
betäuben mich.

33
Leben Sie recht wohl und denken im Guten an

34
Ihren
alten Freund Joh. Ge. H.


35
Adresse:

36
An / HErrn Geheimen Rath Jacobi / zu /
Düßeldorf
. /
Fco Wesel
.


S. 210
Vermerk von Jacobi:

2
Koenigsberg den 1
ten
Jan 1786

3
J. G. Hamann

4
empf. den
1
2
3
ten

5
beantw. den 13
ten

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 128–130.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 178–181.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 3–5.

ZH VI 207–210, Nr. 913.

Zusätze fremder Hand

210/2
–5
Friedrich Heinrich Jacobi

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
207/28
und
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u
207/29
u
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
208/9
verdrüßlicher
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
verdrüßlicher,
209/1
–12
Er […] ausstrecken?]
Die Passage ist in der Handschrift von Jacobi am Rand markiert; zum Anfang des Absatzes von Jacobi am Rand notiert: „Markard“, zur Mitte: „Lavater“.
209/4
wollen.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wollen:
209/7
–8
die […] Daseyn.]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
209/10
Antichristentum
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Antichristenthum
209/19
verwildere
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
verwildere.
209/32
lesen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lesen,
209/36
Fco Wesel
.
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
210/4
1
2
3
ten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
13
ten