914
210/8
Glück und Heil zum neuen 1786. Jahr für Sie u. die Ihrigen, wie für

9
mich
u.
die Meinigen, auch alle unsre Freunde u. Lieben, Amen.

10
Die erste Feder, die ich in diesem Jahr in die Hand nehme, ist außer der

11
gestrigen Predigt
, ein Brief an Sie, lieber Freund u. Gevatter, da mir

12
durch
Jakobi
der Ihrige eben in den letzten Dezemb. Tagen des vorigen Jahrs

13
geworden ist. Ihr Zufall, lieber H. geht mir nah u. ich bitte,
ihn
,
nicht leicht

14
zu nehmen. Das Erste, worauf Sie, ich bitte Sie um alles sehen müßen, ist

15
die
Diät
, die
vor
bei
Ihnen
mali fons et origo
zu seyn scheinet. Was soll

16
die verhaßte Schlange, die Neunauge? die ich seitdem ich lebe, nicht habe

17
eßen können, ohne eine Unverdaulichkeit, die sich theuer gnug bezahlet. Sogar

18
jedes kleinste Stück Aal, Säufleisch, wenn ichs auch unwißend zu mir

19
genommen, straft sich hart u. ich muß als ein
Phryx
u.
piscator ictus
mit

20
Gewalt klug seyn lernen. Thun Sie ein gleiches, lieber Alter: denn in Ihren

21
Jahren verträgt der Magen nicht, was er wohl sonst vertrug:
fuimus

22
Troës
.
Auch habe ich manchmal in Ihren Briefen über die Schweiße u.

23
plötzl. Erkältungen gezittert, denen Sie sich nach jenen aussetzen. Was will

24
das werden? Ihre Natur ist bei dem kleinsten Funken ein Feuerrad, das Sie

25
darauf mit Eiswaßer begießen u. das also wohl stille stehn oder stocken

26
muß. Ich bin der erbärmlichste Arzt auf Gottes Erdboden, aber da ich Sie

27
kenne, ist hier leicht zu warnen, vielleicht schwerer die Warnung zu befolgen.

28
Auch bei Ihrer Reise hüten Sie sich doch ja vor Erkältung u. reisen daher

29
nicht, wenns noch zu kalt ist. Giebt Ihnen der Himmel Frühling
u.
eine

30
Reise, wie ichs wünsche, so bin ich gut dafür: nach so langem Einsitzen wird

31
diese Hauptveränderung zu Ihrer neuen Gesundheit dienen u. ein neues

32
großes Jahr in Ihrem Lebenslauf und Umlauf bewirken. Könnten Sie mit

33
uns das Karlsbad brauchen, wohin wir auf den späten Sommer wieder zu

S. 211
gehen gedenken: so wäre dies eine Reinigung u. Erquickung von innen, die

2
wohl kein Mittel auf der Erde bewirken oder ersetzen kann; nur muß

3
Brunnen u. Bad einige Wochen fortgebraucht werden. Wie über alle heilsamsten

4
Dinge in Gottes Welt sind auch über diesen Gesundheits- u. Lebensquell

5
Vorurtheile im Schwange, an die man sich nicht kehren muß u. die wir im

6
vorigen Sommer durch Erfahrung haben abschütteln lernen. Wir können

7
Ihnen also sichere Mystagogen zu diesem Heiligthum der Gesundheit

8
werden, wenn Gott Sie nur erst von Ihrer Nordküste, wo die Nymphen am

9
Eridanus harte
Bernsteintropfen
weinen, die niemand hört sondern sie in

10
Kabinetten aufstellt, zu uns führet. Kommen Sie, sobald die Verabredung

11
mit Buchholz getroffen ist, wenn Sie wollen; unser Haus u. Herz soll Ihnen

12
offen stehen. Dörfte u. könnte ich zum Neujahrswunsch noch eine kräftige

13
Segnung zufügen, so wärs, auch Ihr Gemüth etwas mehr zu beruhigen

14
und sich von dem Freunde in Düßeldorf nicht gar zu sehr mit Gedanken

15
umher jagen zu laßen. Er ist ein Treiber Jesu, der selbst in unaufhörlichen

16
Kopfschmerzen denket u. lebet, weil er die Diät eines Reichen, der keine

17
Geschäfte hat, mit einer Metaphysik verbindet, die eben so wenig als jene Ruhe

18
schaffen oder leiden kann. Zu seiner Gesundheit wünschte ich ihm ein Amt,

19
wo er
aus
sich herausgesetzt oder ein Werk
de longue haleine,
wo er mit

20
einem deutlichen Zweck arbeiten u. sich selbst vergeßen müßte. Jetzt merke

21
ich ist er in Kant, den er gegen Mendels. gebrauchen will u. ich fürchte, er

22
geht selbst mit diesem Metaphysiciren zu Grunde. Sie haben ein großes

23
Gewicht über ihn u. ich wollte, Sie wendeten es dazu an, sein metaphys.

24
Uhrwerk aufzuhalten u. den Zeiger auf einen andern Punct zu rücken: denn

25
aus diesem wird für beide Theile nichts. Mend. ist zu alt u. ein zu claßischer

26
Philosoph der deutschen Nation u. Sprache, daß er sich belehren ließe u. ein

27
zu pfiffiger Ebräer, als daß ein ehrlicher Christ mit ihm auskäme. In seinen

28
Morgenstunden hat er unserm Jacobi auf eine so listige Art den blanken

29
Hintern gezeigt u. seinen
Schatten
von
Leßing,
(denn es ist gewiß nicht

30
Leßing selbst, den er da als den matten Hirsch
etc. etc.
vormahlet) aus dem

31
Gefecht zu bringen gesucht, daß er durch diese Vorrückung der Steine schon

32
gewonnen Spiel hat. Wie Jac. mir schreibt, will er in der Berlin.

33
Monatschrift erklären, daß da Jac. Leßing u. ihn habe
bekehren
wollen: so p

34
das weitere kann man sich denken. Es ist sonderbar, daß in dem alten Mann

35
der versteckte Haß gegen die Christen von Tag zu Tage mehr hervorzutreten

36
scheinet: denn allenthalben bringt er, wo mit der eiskalten Wolf.
Mod

37
Wortphilosophie nicht weiter auszukommen ist, die Christen als gebohrne oder

S. 212
wiedergebohrne
Schwärmer
ins Spiel u. mit dieser geheimen bittersten

2
Intoleranz ist alles Disputiren am Ende. Doch das wißen Sie alles beßer als ich

3
u. könnens beßer am Zipfel faßen u. zurechtlegen. Ueber Buchholz
u.
seine

4
junge Frau hat Müller in Schafhausen neulich einen Brief geschrieben, der

5
sich in Absicht des Ersten so sehr mit meinen
eignen
Eindrücken von ihm

6
begegnet, daß ich mich auf die persönl. Bekanntschaft Ihrer beider herzl. freue.

7
Er soll eine so liebenswürdige, stille, energische Ruhe haben; seine Gemahlin

8
auch von einem so sanften Marien-Charakter seyn, daß es nicht viel fehlt,

9
wenn Müller sie durch einen kleinen chronologischen Irrthum sie wirkl. ins

10
N. T. hinüberrückt u. künftig die
beata virgo
der Evangelisten in ihrem Bilde

11
denket. Ich wünsche herzl. Eurer beiden persönliche Bekanntschaft: sie wird

12
für beide erwünscht u. befriedigend werden. Müller schreibt, Buchholz wolle

13
auf den Frühling nach Weimar kommen: wenn dem also ist, scheinen sich

14
die Fäden ziemlich zusammen zu rücken u. die weise Minerva oben wird zu

15
rechter Zeit den Schlag thun, daß die Figur im Gewebe ganz werde.
Faxit

16
Deus!

17
Ueber Ihren Rec. in der lat. Zeitung geben Sie sich, liebster H. durchaus

18
keine Mühe. Ich hatte das Ding, das nicht kalt, noch warm ist, vor einem

19
halben Jahr durch einen Zufall gesehen u. schrieb es gleich in meinem Sinn

20
auf einen Verf., der, wenn er die Rec. gemacht hat, sie als ein wahres

21
Schaaf,
sine cu
lpa et noxa,
dahingestellt hat, weil er eigentl. nicht wußte,

22
was er sagen wollte. Neulich kam ich mit Göthe, der mir jedesmal einen

23
Gruß an Sie aufträgt, darüber zu sprechen u. ich verwunderte mich, daß er

24
sie eben dem Verf., den wir beide kennen, in Gedanken zugeschrieben hat, u.

25
sonach könnte sie aus meinem Ex. selbst, wie Kants Rec. des 2ten Th. der

26
Ideen aus dem Ihrigen, gemacht seyn. Wahrscheinlich wollte er loben, wußte

27
aber nicht recht, wie ers angreifen sollte, weil ihm das Büchlein zu kraus,

28
bunt u. schwer war, er auch in der honetten Welt mit dem Lobe nicht recht

29
auszukommen getraute. Indeßen hatte er durch Claudius, mich u. a. eine Art

30
dumpfe
m
n
vorgefaßten
estime sur parole
für den Verf. u. so mußte der

31
arme Zwitter von Rec. werden. Ich will mich, ob sie gleich sehr geheim mit

32
den HErn. Arbeitern dieses Jenaischen Weinberges voll saurer Trauben

33
thun, nach ihm erkundigen u. bestätigt sich meine Vermuthung, so müßen

34
Sie keine Feder über ihn anrühren u. Ihre Kraft für den Berlin.

35
Recensenten, der bald gnug vortreten wird oder für Mend. Antwort an
Jacobi,

36
die, wie dieser mir schreibt, unter der Preße seyn soll, sparen. Kants Rec.

37
über den 2. Th. der Ideen werden Sie schon gelesen haben: Das Hämische

S. 213
darinn kann u.
soll
ich der Urheber des Buchs am meisten fühlen; darauf

2
ists angelegt u. damit soll es gut bleiben. Die Fortsetzung rückt ganz aus

3
seinem Gebiet u. er mag drüber, was er will, sagen: so will ich nichts über

4
oder gegen ihn sagen; die Welt ist ja groß gnug, sagt Onkel Toby, daß sie

5
seine Metaphysik der Natur u. meine armen
Ideen
,
über die Geschichte, die

6
gar keine Metaph. seyn sollen, faße; indeßen thuts mir wehe, daß ich auf

7
völlig unverdiente, wenigstens durch meine
r
Unwißenheit unschuldige Art

8
mit ihm als meinem Lehrer in einen
quasi
-Zwist gekommen bin. Ich habe

9
beim ersten Theil, den er angrif,
ac si de ipso et suo res ageretur,
an ihn

10
oder
an seine
Behauptungen mit keinem Gedanken gedacht, als wo ich ihn

11
genannt habe. Daß er ein Werk der Art im Sinn gehabt habe, ist mir völlig

12
unbekannt gewesen
etc.
u. es war mir also äußerst unerwartet, daß er nach

13
Lesung des 1. Th. mit seiner Rec. u. einem Plan in der Berl. Mon. schr. für

14
einen künftigen Newton dieser Philosophie herausrückte. Im 2ten Th.

15
mußte ich nothwendig meinen Weg nehmen u.
absondern
, was er denn

16
mit einer Art Hohnlache gerügt hat.
Habeat sibi!
Der 2te Newton trete

17
nach mir auf; ich habe mit ihm nicht wetteifern wollen. Doch gnug von

18
diesen Schmetterlingen u. Wespenstichen, die einmal in der Literar. Luft

19
unvermeidlich sind; Gott erlöse mich auch von diesem Uebel. Amen.

20
Meine Frau, die schwächl. ist, aber doch im Ganzen einen beßern Winter,

21
als den letzten hat, grüßt
s
Sie
herzl. u.
innig,
mit 1000. schwesterl. Wünschen

22
zum N. Jahr für Sie u. die Ihrigen. Meine Kinder thun ein gleiches.

23
Grüßen Sie Hill, deßen Sie sich auch mit Freude erinnern, Hippel u. wer sonst

24
meiner in Gutem gedenkt. Göthe, ein sehr braver Mensch, grüßt Sie
herzl‥

25
Gott empfohlen! lieber, guter, treuer Freund u. Landsmann. Mein gestriger

26
Text war nebst dem Ev. Psalm
139.
Deine Augen sahen mich pp
Vale, Vale.

27
Herder


28
Sobald sich etwas Bestimmteres von und zu Ihrer Reise ausmacht: so erfreuen

29
Sie mich doch bald mit einem Briefe. Wollen Sie aber unerwartet kommen,

30
desto beßer, wenn Sie nur gesund dasind. 
Vale.
Den 2. Januar 1786.

Provenienz

Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 33).

Bisherige Drucke

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 222–226.

Siegfried Sudhof (Hg.): Der Kreis von Münster, 1. Teil, 1. Hälfte. Münster 1962, 245.

ZH VI 210–213, Nr. 914.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
210/9
u.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
210/11
gestrigen Predigt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gestrigen Predigt
210/12
Jakobi
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Jacobi
210/13
ihn
,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ihn
210/15
Diät
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Diät
210/15
vor
bei
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
bei
210/22
Troës
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Troes
210/29
u.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
211/9
Bernsteintropfen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Bernsteinstropfen
211/19
aus
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
aus
211/29
Leßing,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Leßing
211/30
etc. etc.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
etc etc
212/3
u.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u
212/5
eignen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
eigenen
212/30
dumpfe
m
n
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
dumpfe
m
r
213/5
Ideen
,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Ideen
213/10
an seine
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
seine
213/21
s
Sie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Sie
213/21
innig,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
innig
213/24
herzl‥
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
herzl.
213/26
139.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
139:
213/28
–30
Sobald […] 1786.]
Vertikal am Rand der letzten Seite notiert (wie bei Herder häufig); bei ZH im Apparat ediert.