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213/31
Kgsberg den 4 Jänner 86

32
Nun Herzenslieber J. Diesen Morgen erhalte Ihren Brief vom 23
pr.

33
und sehe mit Verdruß daraus, daß
Sie
krank sind und kalmäusern. So muß

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man das Neue Jahr nicht anfangen. Ich habe die beyden ersten Nächte

35
deßelben auch beynahe schlaflos zugebracht, aber die beyden letzten sind desto

S. 214
gesunder und ruhiger gewesen. Sie wollen meinen guten Rath, und den darf

2
ich Ihnen nicht geben. Ihre
N
eigene Natur und die Vorsehung giebt

3
Ihnen schon den Wink sich zu zerstreuen, und Mendelssohn mag schreiben,

4
was er wolle, es nicht einmal eher zu lesen, als bis Sie Lust dazu haben, und

5
es mag nun Wermuth oder süßer Wein seyn, mausestill zu schweigen. Ein

6
Patient
muß nicht
schreiben
.
Et ab h
oste consilium
– Wie er dem

7
Publico seine Nervenschwäche klagt; so machen Sie es mit ihm. Ein artiger

8
Weltmann wird den Ton bald zu finden wißen, und ohne Politik giebt es

9
leider! heut zu Tage keine Philosophie. Sie müßen sich schlechterdings

10
kasteyen und fasten, wie ich es thun muß, um diese unreinen Geister zu

11
vertreiben. Ohne diese äußerl. Zucht schlägt kein Exorcismus an.

12
Ich arbeite wie eine Schildkröte und warte auf einen Adler zur
Luftfahrt;

13
um dem alten Aeschylum der Allg. deutschen Bibl. auf seinen kalten

14
Haarschedel zu fallen. Der Anfang den ich Ihnen zugeschickt, kommt Ihnen

15
vielleicht zu matt vor – – ach wenn Sie wüsten, was für Arbeit ich mit der

16
Scheere an diesem
Anfange
ausgeübt habe. Wenn Sie sehen könnten, wie ich

17
meinen
beynahe
ausgeschwitzten Horatz im Busen trage – Wie sauer die

18
einzige Regel:
iam
nunc
debentia dici Pleraque
aufzuschieben
und
praesens

19
in tempus
auszulaßen

20
Vielleicht schicke ich Ihnen die Fortsetzung, sie mag so klein seyn wie sie

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wolle – Es raucht und braußt noch immer in meinem Kopf so herum, daß ich

22
weder zu sehen noch mich selbst zu hören im stande bin.
Rebecca
schwebt

23
mir vor Augen und
Rahel
, der ersten Schwangerschaft und der zweiten

24
Entbindung. Lesen Sie beyde um sich die Wehen meiner Muse vorstellen zu

25
können.

26
Vergeßen Sie Ihre eigene Autorschaft der meinigen zu Gefallen – wie ich

27
die meinige, aus Liebe zur Ihrigen – nicht vergeßen, sondern aufs höchste

28
treiben will. –
Coelum et Acheronta mouebo,
so wahr ich keine
Dido
sei
,

29
aber auch kein Windbeutel.
Aber
miracul
a speciosa
soll Niemand der

30
Kundbare zu lesen bekommen, und L. selbst soll keine mehr verlangen zu

31
erleben.

32
Sie müßen nicht wie ein
Träumender
in der Stube auf und

33
niedergehen; sondern nach Münster reisen, und das junge Paar überraschen. –

34
Die Winterbahn ist herrlich, Kälte stärkt die Nerven. Allenfalls will ich

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etwas beylegen zu überbringen – bitte aber der schwangern Marianne nichts

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abzuschlagen. B. können Sie ein wenig eifersüchtig machen und alteriren, bis

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er
Appetit
zum Glas kalt Waßer bekommt; aber die Frau muß mittrinken.

S. 215
Erlauben Sie beyden den Wein aber
ad modu
m Timothei
, wie
S.
Paulus

2
sagt.

3
Vorgestern wuste mir Brahl aus einem Briefe zu erzählen, daß die

4
Anmerkungen u. Zusätze von Reimaru
s
s sind hinter den Metten des M.

5
Gestern besuchten mich Hippel u Scheffner – der erste verfroren in seidnen

6
Strümpfen. Ich habe beyden reinen Wein eingeschenkt, nicht aus dem

7
Evangelio aus Cana, sondern im epistolischen Geist, und illuminirt von oben bis

8
unten, daß ihnen Kopf und Füße warm wurden, und davon liefen. Lauter

9
politische Algebra für Kannengießer! So muß man sich des Lebens

10
Bitterkeit vertreiben.

11
Goecking wird mit der Kammerherrin Elisa hier erwartet, als Nachfolger

12
des seel. Schwanders. Laßen Sie nur Mend. weißagen und den

13
Hohenpriester Kaiphas
nachahmen
spielen. Das Lachen soll ihm werden theuer.

14
Sein Jerusalem, von dem ich keinen Buchstaben mehr weiß und seine

15
Metten habe gestern von Brahl geborgt.

16
Auf die
Göttingsche
Recension
warte mit Schmertzen und noch

17
durch meinen Landprediger und Kantens in derselben erinnern laßen Freund

18
Fischer, der mir heilig
aus
mit eignem Munde und durch noch 2 Zeugen

19
versprochen, sie mir gl. zuzuschicken. Das 197 Stück muß also noch nicht

20
hier seyn.

21
Mein Johann Michael speist diesen Mittag mit meinem
Gast
bey

22
Scheffners
Schwagers
, Stadtrath
*
Wirth. Scheller
wird erst mit Ende

23
dieser Woche abreisen. Ich bin seit dem 29
pr.
nicht aus dem Hause gewesen,

24
und denke erst mit dem
Neujahr der Heiden
, das Sontags

25
eingezogen wird, wider frische Luft zu schöpfen.

26
Trauen Sie, liebster Freund, keinem Gewäsche aus Berlin, und warten

27
Sie erst ab, ohne sich gleich zum Zweykampf zu rüsten. Eben die Gesetze

28
finden bey gelehrten Ausforderungen statt, als bey bürgerl. Man muß nicht

29
jedem
Narren
zu Gebot stehen, der sich um einer halben oder Viertel

30
Wahrheit mit uns balgen will. Die Wahrheit verträgt sich nicht mit allen dergl.

31
Katzbalgereyen. Behandeln Sie die Sache Ihres todten Freundes, nicht mit

32
warmer, sondern eiskalter
Hand
de main-morte.
Ist Mendels. im stande

33
Sie eines beßern zu belehren; desto beßer für Sie. Braucht er nichts wie

34
Taschenspielerkünste: so werden es die Leser wohl merken, und dann ist es

S. 216
Ehre für Sie der letzte zu
seyn
es ihm unter die Nase zu reiben. Wenn Sie

2
es nicht für eine stinkende Eitelkeit halten; so warten Sie wenigstens den

3
Fortgang meiner Arbeit ab, weil ich dadurch Ihren Gang zu erleichtern

4
hoffe, und auch die Fehler unserer Freunde sind lehrreicher als ihre Regeln,

5
wie jedes Beyspiel selbst einer Ausnahme.

6
Fahren Sie also getrost nach Münster, und ziehen Sie mir genaue

7
Erkundigung von dem jungen Paar ein, ob ein Asmodi demselben etwa

8
nachstellt, und nach Bewandnis der Umstände überlaße ich es Ihnen Beyl.

9
abzugeben oder für
s
Sich Selbst zu behalten. Sie können ihm auch an dem

10
ganzen Geheimniß meiner 6 Wochen Antheil nehmen laßen und sein kritisches

11
Gutachten, dem ich mehr zutraue als ich sagen mag und weil er

12
unparteyischer als wir beyde Intereßenten seyn können, Er auch im Namen seiner

13
Mutterkirche
, die ich wie das
Judenthum
, für die Ahnen meines

14
lutherschen
Magens
und
Schwertes
erkenne, Sitz und Stimme in

15
diesem Handel haben muß.

16
Da haben Sie auf einmal so viel zu thun, daß Sie nicht Zeit haben

17
werden
sich
um die Chaldäer in Berlin zu bekümmern. Vergeßen Sie nicht auf

18
diesem Kreuzzuge meine beyde Elemente der Luft und des Waßers zu

19
predigen. Mit der Feuertaufe werde nachkommen.

20
Haben Sie noch nicht die
relationem curiosam
von meinem schiefen

21
Maul erhalten. Bitte mir doch das
Datum
dieses Briefes zu melden, den ich

22
wider meine Gewohnheit schändl. vergeßen haben muß auf den Umschlag

23
der Ihrigen zu schreiben. Ich gehe sonst darinn sehr kaufmännisch zu

24
Werk.

25
Bin ich im stande eine Fortsetzung meines fliegenden Briefes beyzulegen,

26
der aber noch wie eine Raupe kriecht: so erinnere ein für allemal, daß es bey

27
diesem Entwurfe noch nicht bleiben kann, sdn noch alles siebenmal im irdenen

28
Tiegel geläutert werden muß, und ich alle Mühe von der Welt habe meine

29
Hörner oder Flügel, die immer ausbersten wollen, zurückzuhalten und

30
gemächlich einzuziehen, bis die Zeit kommen wird meine Seegel zu spannen und

31
allen 4 Winden Preis zu geben und Sturm zu laufen auf die
Carte blanche

32
eines ehrlichen
Urlaubs
oder
Abschieds
, nach dem das Schicksal mir

33
zugedacht. Da sehen
Sie
die Achse an dem großen Rade meiner ganzen

34
Wind- und
Waßermühle –

35
So bald mein Hill komt (der gestern wider alle seine Sitte, Art
u
Weise

36
ausgeblieben, weil er vielleicht Witterung von der Staats
visite
gehabt)

37
schicke ich ihn nach dem großen königl.
Hospital
mich nach No 197 zu

S. 217
erkundigen, von dem die Fülle der letzten Seite abhängt. Ist Heyne der

2
Recensent;
so vergeb ich ihm allen Unfug an
Voss
u wünsch ihm ein gut Neujahr.

3
Könnte es nicht H. in W. seyn?


4
den 5.

5
Artzt, hilf Dir selber. Der Rath, den ich Ihnen liebster Jacobi gestern

6
gegeben habe, ist noch nöthiger für mich selbst; und man befiehlt mir

7
schlechterdings auszugehen. Die Bedürfnis der Noth fühle ich selbst. Zum Unglück

8
bekomm ich gestern Abend die Herzenserleichterung 2 Menschenfreunde über

9
L. Glaubensbekentnis ins Haus, habe mich an dem feinen Druck bey Licht

10
die Augen aus dem Kopf gelesen, und die Füße eiskalt und das Gemüth so

11
wund und niedergeschlagen, daß ich zu Bette gehen mußte, ohn Sch.

12
abwarten zu können. Diese Schrift verdient, daß Sie sie kennen lernen. Da ist

13
die Idee L. zum Mitgl. u Haupt des neuen CryptoKatholicismus zu machen,

14
an die Sie neulich dachten schon ausgekramt.

15
L. u ich haben zu gl. Zeit unsere Gedanken über die Einförmigkeit des

16
Theismi u Atheismi mit eben
denselben Sprüchen
belegt.
„Welche

17
seltsame Dinge, ruft der Verf. aus, laßen sich nicht aus diesen Stellen

18
ausbuchstabiren! Vielleicht giebt es in der ganzen Bibel keine, bey denen die

19
große biblische Wahrheit:
Der Buchstabe tödtet
, augenscheinlicher

20
einleuchtet!“
Ich bin wider aus dem Ton heraus, und kann nicht wider auf

21
die rechte Spur kommen. Das macht mich trostlos und bringt mich beynahe

22
zur Verzweifelung an mir selbst.
Mein verfluchter
Wurststil
, der von

23
Verstopfung
herkommt, und von L.
Durchfall
ein Gegensatz ist,

24
macht mir Eckel u Grauen.
Ich habe schlechterdings einen Freund zum

25
Corrector
und Erinnerer nöthig, der mir hier fehlt. Es scheint mir daher

26
beßer zu seyn, daß ich erst Ihre Meinung über den Anfang abwarte, und

27
mich von dem jetzigen Rückfall ein wenig wider erhole. Mein Rath bey Ihrer

28
gegenwärtigen Gesundheitslage nicht die Feder zu einer öffentl. Arbeit

29
anzusetzen, bekommt durch meine eigene Erfahrung mehr Gewicht. Beynahe

30
möchte ich Sie auch warnen sich mit meinen Schmieralien nicht den

31
Geschmack zu verderben.

32
Hippel verliert übermorgen seinen u ich meinen Gast. Ich freue mich recht

33
darauf, ohne
arbitro
und
teste
meiner Schwachheiten zu seyn, und werde

34
morgen vielleicht ein wenig ausgehen, um dem guten Rath meines Artztes

35
Gnüge zu thun. Wenn ich weiter komme, werde Ihnen die Fortsetzung

36
mittheilen und mir Ihren Rath aufmuntern oder
zurück halten
laßen. Man

37
kann den Täuschungen seiner Phantasie nicht trauen; mit diesen Irrlichtern

S. 218
läuft man Gefahr, in Sumpf u Morast zu gerathen. Wenigstens brauche ich

2
jetzt eine ganze Umstimmung meines
Organi
.

3
Haben Sie Mitleiden mit einem alten kranken Mann und werden Sie

4
bald gesund. Ich will mir heute Ruhe schaffen. Gott seegne Sie und die

5
Ihrigen. Vielleicht bald mehr in beßerer Laune – No 197 muß noch nicht

6
hier seyn. Wenn Scheller des Abends zu Hause kommt, werde ich es

7
zuverlässig erfahren.

8
Ich ersterbe der Ihrige.
Vale et faue peccatorum et amicorum Tuorum

9
primo.


10
Vermerk von Jacobi:

11
Koenigsberg den 4
ten
u 5
ten
Jan 1786

12
J. G. Hamann

13
empf den 15
ten

14
beantw den 17
ten


* Am Rand von Hamann notiert:

nom propr.

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 130–134.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 181–186.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 6–10.

ZH VI 213–218, Nr. 915.

Zusätze fremder Hand

218/11
–14
Friedrich Heinrich Jacobi
218/14
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
213/33
Sie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
sie
214/12
Luftfahrt;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Luftfahrt,
214/16
Anfange
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Anfang
214/17
beynahe
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
beinahe
214/18
aufzuschieben
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
aufzuschieben,
214/19
auszulaßen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
auszulaßen.
214/28
sei
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
bin
214/28
–29
Coelum […] Windbeutel.]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
215/22
Schwagers
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Schwager
215/32
Hand
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Hand,
216/1
seyn
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
seyn,
216/34
Waßermühle –
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Waßermühle. –
216/35
u
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
216/37
Hospital
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Hospital,
217/16
–20
„Welche seltsame […] augenscheinlicher einleuchtet!“]
Die Auszeichnungs-Konvention für Anführungszeichen des 18. Jahrhunderts wurde modernisiert (wie ZH es auch sonst tut, aber hier unterlässt).
217/22
–24
Mein […] Grauen.]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
217/36
zurück halten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
zurückhalten