917
220/22
Kgsb d 10 Jänner 86.
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Mein Herzenslieber J. – Ich kann die morgende Post nicht abwarten,
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sondern nehme noch heute meine Zuflucht zu Ihrer Humanität und
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Freundschaft Sie wegen der Briefe um Verzeihung zu bitten, womit ich Sie gegen
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das Ende und beym Anfange des Jahreswechsels bestürmt. Es scheint
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würklich, daß ich selbige in trunknem Muthe geschrieben habe. Noch denselben
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Abend, als mein letzter Brief eben abgegangen war, erhielte das 197 St. der
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Göttingschen Zeitung, und ersah daraus, daß Ihre Schrift in Breslau bey
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Löwen ausgekommen war. Ich begreife also nicht, wie ich dies habe
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übersehen und Ihnen zumuthen können, sich mit de
r
m Ab
schrift
druck meines
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foetus
zu belästigen. Ihre Schrift war mir nicht zur Hand, und ich bildete
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mir
ein
, daß der Abdruck, mit dem ich zufrieden war, unter Ihren Augen
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war veranstaltet worden, daß Fkf. u Leipzig darauf gestanden hätte u d. gl.
S. 221
mehr. Dieser blinde Einfall fällt nu
n
mehro von selbst weg, und das
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AutorFieber hat sich ein wenig gelegt. Ich bin gestern zum ersten mal ausgegangen,
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heute in aller Frühe ausgewesen. Die Witterung ist Gottlob! gelinder
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worden; und weil ich die Nothwendigkeit u Wohlthätigkeit des Ausgehens an
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meinem ganzen Körper fühle; so bin ich heute wider willens der gestrigen
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Einladung meines ältesten Freundes Kr. R. Hennings Gnüge zu
thun
.
Alles
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was ich während dieses
Paroxysmi
geschrieben, bitte also
cum grano salis
8
zu lesen und in
bonam partem
auszulegen. Dergl.
cris
i
es
gehören zu
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meiner Art und Weise, dienen zur Erleichterung meiner
humorum peccantium.
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Ich setze meine Arbeit langsam fort, und werde Ihnen sobald ich kann, wider
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Etwas mittheilen, wol schwerlich mit dieser Post. Bitte aber nochmals mir
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Ihren wehemütterlichen Beystand aus; weil ich wirklich hier keinen Freund
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habe; H. ich dies nicht zumuthen kann; Sie aber nöthig haben ein wenig
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durch Antheil an fremden Arbeiten von einer übereilten Selbstthätigkeit
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abgehalten zu werden. Das Göttingsche Blatt habe abgeschrieben, in meinem
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Gedächtnis ist keine Spur davon; und ich denke, daß Sie damit zufrieden
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seyn können. Ich kenne Heynens deutschen Styl gar nicht; ahnde aber immer
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auf unsern Freund in W. Ich habe M. Jerusalem u Vorlesungen seit
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14 Tagen von Brahl geborgt, ohn selbige ansehen zu können. Gestern ersucht
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mich mein Artzt, den ich als meinen Nachbar besuchte, um das letztere Buch.
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Ich fange gestern Abend an drinn zu lesen – Mein Billigungsvermögen ist
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eben so aufgebracht, wie Ihrs, gewesen. Zum Glück wurde das Buch diesen
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Morgen abgeholt.
Wenn mich nicht mein äußerer und innerer Sinn trügen;
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so ist seine ganze Philosophie ein solch elend jämmerlich Ding, wie das
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menschliche Leben.
HE. Kriegsrath Deutsch ist Sonnabends unvermuthet
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nach Königsberg gekommen und hat seinen Sohn wieder nach der Stadt
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gebracht. Ich habe ihn heute frühe erst gesehen u zugl. Abschied genommen,
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um ihn der Mühe zu überheben, bis in meine Gegend zu kommen, wie er sich
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anerboten hatte. Meinen Kopf muß ich schonen, und langsam zu Werk
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gehen. Damit hoff ich, so Gott will, weiter zu kommen als ihn zu übertreiben
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und Gewalt anzuthun. Morgen so Gott will mehr. Meine Amtsstunde
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schlägt. Ich wünsche morgen beßere Nachrichten von Ihrer Gesundheit als
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bisher zu erhalten, und sich an meinem Beyspiel zu spiegeln.
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den 11.
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Scheller hat heute gantz unvermuthet Abschied genommen, da die Reise
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auf morgen ausgesetzt war; Kr. Deutsch ist wegen des auf einmal
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eingefallenen Thauwetters besorgt geworden, und daher geeilt. Vielleicht hat ihn
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Hippel noch überredt hier zu bleiben – ich bin also noch nicht gantz gewiß, ihn
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vielleicht diesen Abend wider zu sehen. Durch meinen Sohn denke ich in einer
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Stunde die völlige Gewißheit zu erfahren. Ich sehne mich nach Einsamkeit
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u Ruhe; und mein Gast hat auch zu eilen. Er wird auf den Sonntag über
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8 Tagen
introducirt,
und
hat
nur 8 Tage noch in Graventihn zu
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verweilen, um Abschied zu nehmen und an seiner Predigt zu arbeiten. Er ist ein
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offener Kopf, geschickter Mann und sehr angenehmer
Gesellschafter
.
Lauter
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Verdienste die ich in meiner jetzigen Lage nicht genießen kann – und er eben so
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wenig an meine
m
r Antheil nehmen.
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Ich habe mich in Ansehung des Vergangenen aufrichtig gegen Sie erklärt,
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und hoffe auch mich hinlänglich entschuldigt zu haben.
Homo sum,
sagt alles.
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Meine Idee gebe ich noch nicht auf, biß ich wenigstens von der Unmöglichkeit
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der Ausführung durch mich oder Ihr Zeugnis überführt bin, die Sache liegen
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zu laßen. Vergraben Sie wenigstens in Ihrem Pult, was ich Ihnen
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mittheile, und wenn ich Sie drum bitten werde, in Ihrem Kamin. Diesen
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Mittag habe bereits die Morgenstunden zurück erhalten; sie müßen
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wahrscheinl. dem Leser gut geschmeckt haben.
Ich habe diesen Nachmittag wider
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von vorn angefangen und finde statt Geist und Wahrheit
bona verba
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praetereaque nihil.
Einer von beyden muß blind seyn, der jüdische
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Philosoph oder ich. Es ist eitel Taschenspielerey und Gauckeley mit ihrem Suchen
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und Finden der Wahrheit. Es ist keine Kunst zu finden, wenn man die Sache
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selbst hingelegt hat wo man sie hernehmen will.
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Mein Sohn komt mit der Nachricht von Mendelssohns Tode zu Hause,
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die mich sehr gerührt und meine alte Freundschaft, die
wol
noch nicht
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Schiffbruch gelitten, von neuen aufgeweckt. Ich habe ihn weniger gemeynt, als die
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dummen Bewunderer u Chaldäer, die nicht ermangeln werden, an seiner
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Apotheose zu arbeiten. Nehmen die Todte noch an unsern Händeln Antheil;
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so hoff ich, daß er mit mir mehr als mit jenen übereinstimmen wird. Er ist
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jetzt jenseits der Wahrheit näher, als wir beyde. Ich hatte an ihn eine
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Apostrophe im Sinn, daß unsere Freundschaft um 3 Jahr älter ist als meine
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leidige Autorschaft, die ich das Herz habe bey lebendigen Leibe zu
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anatomi
ren und ihr Eingeweide, wie jener Landsmann im Buch der Maccabäer, den
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kritischen Hunden in den Rachen zu werfen. Ich habe dem Judentum ein
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beßer Zeugnis gegeben als er, und ein gleiches der katholschen Mutterkirche
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zugedacht. Unsere Mütter mögen noch so große H‥seyn, so ist
Wahrheit
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doch immer der beste
respectus parentelus,
den wir ihnen als
Kinder
nicht
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versagen können.
S. 223
Ein neuer Grund mehr, lieber Jonathan, sich mit Ihrer Autorschaft Zeit
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zu laßen. Es sollte mir leid thun so ein Buch als
Vorlesungen über
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das Daseyn
Gottes geschrieben
zu
haben.
Wenn man das Judentum zu
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einer göttl. Gesetzgebung gemacht hat: so ist es ein lächerlicher Rücksprung,
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das Daseyn eines
philosophischen Ideals
und die Uebereinstimmung
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deßelben mit einigen Begriffen der Schule herauszubringen.
Daß er mich
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nicht lesen darf, erleichtert die Ausführung meines Plans – und ich hatte mich
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immer eine Erklärung darüber nach
verrichteter Arbeit
ihm zu geben,
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gefaßt gemacht. Ich sehe es daher für eine Art von Pflicht an, dies
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nachzuholen auf eine vielleicht öffentliche u nachdrücklichere Art. Es ist eine
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unerkannte Freundschaft
jemanden seiner Irrthümer zu überführen,
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oder ihn wenigstens aufmerksam zu machen auf solche Dinge, die uns
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bedenklich scheinen. Diese Samariterpflicht ist nicht mehr Mode und es niemals
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gewesen unter Priestern und Leviten.
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Ich lernte ihn 56 zum ersten mal kennen, und er gefiel mir sehr wegen
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seiner Unschuld und Bescheidenheit.
Wir waren damals schon nicht einig in
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unsern Urtheilen. Seine Briefe hatten mir beßer gefallen als die Gespräche.
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62 sah ich ihn wieder, aber der Geist der Litteraturbriefe schien auch in seinem
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Umgange merklicher zu seyn. Das
recensi
ren ist eine traurige Arbeit und ein
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kleiner Handwerksstoltz unvermeidlich. Bey seinem Besuche in meinem
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Vaterlande besuchte ich ihn alle Tage; aber die Scheidewand in unserer
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Denkungsart war schon merklicher; ich aber vermuthlich auch selbst schuld
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daran. Meinem Johann Michel gab er noch damals zum Andenken seinen
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hebräischen
Coheleth.
Ich glaube, daß er seine Plage von eignen
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Landsleuten u unsern Glaubensbrüdern gehabt. Vorigen Sonnabend erzählte mir
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noch ein jüdischer Maler, dem ich sonst nicht viel zutraue, daß er eine sehr
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heftige und
impertinente
Antwort von einem Rabbinen erhalten, der ihn
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wegen der frühen Beerdigung um Rath gefragt, weil er geleugnet, daß ein
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ausdrückl. Gesetz darüber vorhanden wäre –
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Die Gesellschaft ist heute wirklich abgereist, und ich bin also heute ruhig –
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aber nicht im stande mehr zu schreiben. Daß die Zusätze hinter den
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Vorlesungen von Reimarus sind, werden Sie wohl wißen. Erfreuen Sie mich
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bald mit beßern Nachrichten von Ihrer Gesundheit, und ob alles gut in
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Münster geht und steht.
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Wenn Sie nicht Lust haben die Fortsetzung meiner Handschrift zu lesen, so
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bitte mir auch darüber ein aufrichtiges Geständnis aus.
Hanc veniam
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damus petimusque vicissim.
Wechselsweise
ist ein
A
aduerbium,
S. 224
das ich mit Fleiß
adiectiue
gebraucht. Ich werde weder heute noch morgen
2
die Feder mehr ansetzen, sondern empfehle mich Ihrer Freundschaft und Ihr
3
gantzes Haus nebst dem Meinigen göttl. Gnade u Obhut.
4
den 12 –
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Die halbe Nacht nicht geschlafen; den gantzen Tag hat M. in meinem
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Kopf gespuckt. Gegen Abend komt ein Brief vom lieben Herder, der an meine
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Reise denkt, und mich traurig macht. Darauf komt Kraus, voll
all
anderer
8
Grillen – Ach lieber Jonathan! geben Sie mir bald Nachricht, daß Sie
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gesund
bin
, und nehmen Sie sich vor Denken und Schreiben in Acht. Der
10
Tod ist in den Töpfen! Ich umarme Sie und kann nicht mehr – Kyrie eleison.
11
Joh. G. H.
12
Adresse:
13
An / HErrn Geheimen Rath Jacobi / zu /
Düßeldorf
. /
Fco Wesel
14
Vermerk von Jacobi:
15
Koenigsberg den 10 – 12
ten
Jan
1786.
16
J. G. Hamann
17
empf. den 23
ten
–
18
beantw den 24
ten
–
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 136–140.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 186–191.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 12–16.
ZH VI 220–224, Nr. 917.
Zusätze fremder Hand
|
224/15 –18
|
Friedrich Heinrich Jacobi |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
221/6 |
thun . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: thun. |
|
221/23 –25
|
Wenn […] Leben.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
222/7 |
Gesellschafter . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Gesellschafter. |
|
222/17 –22
|
Ich […] will.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
222/24 |
wol ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wohl |
|
223/3 –6
|
Wenn […] herauszubringen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
223/15 –16
|
Ich […] Bescheidenheit.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
223/15 –29
|
Ich […] –] |
Die Passage ist in der Handschrift von Jacobi am Rand markiert. |
|
224/9 |
bin ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: sind |
|
224/13 |
Fco Wesel |
Hinzugefügt nach der Handschrift. |
|
224/15 |
1786. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: 1786 |