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Kgsbg den 19 Jänner 86.

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Herzlich geliebtester Gevatter, Landsmann und redlicher Freund,

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Ihren Brief erhielt eben den 12 wie mir der Kopf gantz benommen war

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von des M. plötzl. Todesfall, den ich den Abend vorher durch meinen Sohn

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aus den Zeitungen erfahren hatte. Pf. Scheller war eben mit Kr Deutsch

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nach Graventihn abgereist, ersterer eine ziemliche Weile bey mir zur

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Herberge gewesen, und wird diesen Sonntag als
Adiunctus
und vermuthlicher

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SchwiegerSohn des alten berüchtigten Gottscheds zu Petersdorf

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introduci
rt werden. Sie können leicht denken, daß weder dem alten kranken Wirth

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noch dem muntern Gast, der ein Sachse-DeutschGascogner ist die Zeit über

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nicht wohl zu Muthe gewesen. Zum Glück war er alle Tage ausgebeten,

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kam sehr o
d
rdentl. zum Pfeifchen zu Hause; ich legte mich aber so frühe

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ich muste nieder, ohne Umstände zu machen. – Mein Magen ist wohl noch

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nicht hergestellt, ich habe noch Hoffnung mich zu erholen, aber nicht wieder

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jung zu werden. Gott erhalte man alles in Ihrem lieben Hause im guten

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Gange, daß Sie mich bald mit dem zweyten Theil Ihrer Zerstreuten Blätter

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erfreuen können.

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Ich danke Ihnen recht herzlich, liebster alter Freund, für den Antheil den

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Sie an meiner Gesundheit und Reise, denn beyde scheinen sehr nahe

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zusammen zu hängen, nehmen.

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Die Morgenstunden habe ich nur bey der ersten Erscheinung

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durchgeblättert u einige Stunden angesehen, und eben machte ich wider den Anfang mit

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schlechtem Fortgange und etwas aufgebracht, als ich den Tod des Verf.

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erfuhr, da meine ehmalige Freundschaft für den armen Mann aufwachte, und

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es mir recht weh that ihm nicht Einmal vor seinem Ende geschrieben zu

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haben um ihm einige Erläuterungen mitzutheilen. Aber Sie urtheilen gantz

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recht von ihm. Er glaubte weder Mose noch den Propheten, ungeachtet er

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sie übersetzt und würde allen meinen briefschaftl. Versicherungen auch nicht

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getraut haben. Der Unglaube ist die älteste stärkste und nebst dem

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Aberglauben die einzige
natürliche Religion
. Er ist am letzten Tage des

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Jahres der auf den Sabbath fiel, noch bey seinem Verleger Voß gewesen,

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der wahrscheinl. schon den Anfang zum Abdruck des zweiten Theiles

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gemacht. Nichts Zuverläßiges habe noch bisher darüber erfahren können,

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werde aber unsern J. in D. davon sogl. Nachricht ertheilen. In Ansehung

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seiner ist es mir recht lieb, daß ihm sein Gegner eben so entrückt worden ist, als

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dieser seinem Achates – Ich habe alles Mögl. schon gethan, was Sie mir an

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der Hand gegeben haben, und laße ihn beynahe nicht zu Othem kommen, an

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eigene Arbeiten zu denken. Den 27 Nov. habe bereits den 63sten Theil der

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A. D. Bibl. über der Post erhalten u mir durch einen guten Freund von mir

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u Nicolai, dem Kaufmann
Jacobi
verschreiben laßen. Nunmehro werden Sie

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auch No
III.
nebst
II
u
IV.
gelesen haben. Mit der lateinschen Zeitung bin

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recht wol zufrieden gewesen und wünschte aus Dankbarkeit den Verf. zu

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wißen. Ein mäßiger Beyfall ist mir lieber als ein verdachtiges übertriebenes

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Lob. Aber an dem politischen Philister F. muß ich mich rächen mit einem

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Eselskinnbacken. Das hab ich beynahe ihm zugeschworen und hoff es ihm

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redlich zu halten, so wahr mir Gott hilft und Sein heiliges Evangelium!!!

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Keine Art Urlaub zu erhalten ist weder
für
vor meine Augen möglich

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noch für meinen Geschmack. Ich will von meiner Autorschaft eben so feyerlich

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Abschied nehmen, als ich vor 25 Jahren selbige angetreten habe. Und dann

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erst werde ich an eine zweite Auflage meiner Schmieralien denken können zum

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Besten meines Verlegers, den ich Jahre lang bey der Nase herumgeführt.

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Er schickte mir den Tag nach Empfang Ihres Briefes ein Paar Fäßchen

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Caviar,
wovon ich eins an Kant abzugeben hatte. Die ganze Woche war ich

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lüstern darnach gewesen. Beym Empfang war mein Appetit schon halb

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gestillt. Der bittere Geschmack im Munde vergällt mir alle Feuchtigkeiten; und

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mein schwacher Magen kann diesen Leckerbißen auch nicht recht mehr

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verdauen. Ich habe einige male angesetzt; denn schöner hab ich ihn noch nicht

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erhalten, als dies Jahr zu meinem Verdruß. Die letzte Neige habe ich diesen

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Mittag meinen Kindern Preis gegeben, welche wie die Fliegen drauf erpicht

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sind

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Vorgestern
Montags Abend läßt sich meine Hausmutter verführen in

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die Comödie mit den beyden Mädchen zu gehen. Auf einmal fiel ein starkes

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Thauwetter ein. Ich schickte den guten Hill nach um die Kinder zu Hause zu

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begleiten. Es geht alles gut; vor der Hausthür thut meine Alte so einen

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entsetzl. Schlag, daß ihr beynahe eine Ohnmacht ankommt. Der

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Regimentsfeldsch Miltz, deßen Tochter an dem gantzen Aufzuge schuld war, hat ihr

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heute Blut gelaßen, und ich denke allen übeln Folgen dadurch vorgebaut zu

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haben. Gestern gieng sie den ganzen Tag wie eine betäubte Gans im Hause

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herum. Nach dem Aderlaßen ist ihr leichter. Heute ist der dritte Tag daß ich

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das Haus hüte, Rhabarber und meine Pillen von
Aloe
u
Assa foetida

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eingenommen, um den Wermuth Geschmack aus dem Magenschlunde los zu

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werden.

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Gestern Abend ist ein Schurk von Regierungsrath, Namens
Glawe
, ein

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Liebling des Großkanzlers mit einem
Commando
aus Memel eingebracht,

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der die Grube vielen andern und zuletzt sich selbst gemacht. Wie es ihm gehen

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wird, läßt sich noch nicht absehen. Nach allem Menschl. Vermuthen, schlecht!

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So bald ich
mit
von meiner Arbeit glücklich entbunden bin, werde ich

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anmelden das gelegte Ey. Der Kopf hat mir bereits so gebrannt, daß ich von

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Sinnen zu kommen glaubte, und ich habe die Vormundschaft des Magens

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über die Denkungskräfte niemals so merklich gefühlt, als dieses mal. J. hat

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seinen Jehu an mir gefunden, und ich besorge ihn beunruhigt zu haben durch

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meinen Autorparoxysmos. Das beste was ich thun konnte, war freylich aus

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mir selbst für ihn eine Fabel zu machen, an der er sich spiegeln konnte.

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Nun haben Sie auch schon den
Newton in nuce
im Jänner gelesen. Das

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kleine Ding thut eine allerliebste Wirkung zum
ersten
mal – das bis
aut

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ter lectus
vermindert immer mehr die Ueberraschung. Ey! ey! mein lieber

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Gevatter, Landsmann und Freund! daß Ihnen die Schläge Ihres alten

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Lehrers so weh thun, gefällt mir nicht Recht. Dies gehört zum Autorspiel – und

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ohn diese
veniam mutuam
muß man sich gar nicht einlaßen. Jeder gute

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Kopf hat so einen Satansengel nöthig, statt eines
memento mori
und die

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bittere Aloe macht rothe Wangen – befördert den Umlauf des Bluts und den

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Fortgang der Arbeit besonders solange sie noch unter dem Amboß ist. Das

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dient im Grunde alles zu Ihrem und Ihres Werks Besten, wenn Sie es gut

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anwenden wollen –
etiam ab hoste consilium.
Und das ist K. nicht, sondern

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im Grunde ein guter
homunculus,
dem Hippel ebenso ein Ende wie dem

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Mendelssohn weißagt. Das Schreiben ist ihm jetzt eben so eine Bedürfnis,

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als das Reden und Plaudern. Der Kgl. Bibl. soll sich sehr für diesen ersten

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Beytrag zum N. J. bedankt haben; wie leicht zu erachten. Sind Sie nicht

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erst in der Hälfte Ihrer Ideen? Sind seine Erinnerungen ohne Grund; so

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fallen sie von selbst weg. Haben Sie Grund; desto beßer für Sie ihn noch

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bey Zeiten zu entdecken, und sich darnach richten zu können. Ich würde so

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politisch u billig seyn mich auf jeden Fall dafür zu bedanken – wenn ich nicht

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einen kahlen Kopf hatte – und ein Kritiker der reinen Vernunft so galant

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wäre, was ich eben jetzt meine Magd sehe meinen beyden Mädchen thun, weil

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die Mutter nicht mehr recht sieht, und ihre Nase zu einer Brille ein wenig zu

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klein ist.

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Also iß Dein Brodt mit Freu
n
den, trink Deinen Wein mit guten Muth,

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denn
Dein Werk gefällt
Gott. Dieser Billigungstrieb
vulgo
Glaube

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hält doch immer fest, wenn alle andere Stricke reißen. Wenn der
Caviar

S. 241
bitter schmeckt, liegt nicht die Schuld an einem künftigen Verleger noch am

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vergangenen
Recensent
en: sondern sehr oft an unserm
Oesophago,
wie ich

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die leibhafte Erfahrung habe.

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Der liebenswürdige Graf Stollberg gieng am Neujahrs heil. Abend hier

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durch, gieng von mir zu Hippel, wo er aber den Scheffner nicht zu sehen

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bekommen, speiste bey
Keyß
u reiste denselben Tag glücklich ab. Die Elisa

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wird alle Tage in Gesellschaft
J
Ihres Goeckings erwartet. Ich habe mich

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die Feyertage über nicht aus dem Hause gerührt, gieng den 10 d. zum ersten

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mal aus, um Kr Deutsch den Gang zu ersparen u ihm mein
Compliment
im

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Vorbeygehen zu machen. Auf die PoliceyStrützel u Leibkuchen habe dies

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Jahr Verzicht thun müßen und Scheffner besuchte mich in Gesellschaft

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seines Wirths auf eine Stunde, da mir eben der Kopf rauchte.

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Hat Sie der gute Häfeli aus Wörlitz besucht, wie er sich vorgenommen.

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Er hat mir eine Gottesvertheid
ig
ung über die Zulaßung des Bösen

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empfohlen, die ich hier nicht auftreiben können, und diese Woche verschreiben

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laßen durch den Ex-buchhändler und künftigen
Lombard-entrepreneur

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Wagner. Statt deßen hab ich hier eine alte Abhandlung von demselben

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Autor
de Marées,
der ein geborner Schwede seyn soll, wiewol er

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Mendelssohn
einen
seinen Landsmann nennt, über die
Verbindlichkeit

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der göttl. Gesetze von der Todesstrafe des Mörders u

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Vermeidung blutschänderischer Heirathen 71
. gegen Baumgarten

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u Michaelis. Ich weiß nicht ob mein Urtheil bestochen ist, sie hat mir

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ungemein gefallen und ich habe viel Neues, beynahe
anticipirt
es gegen den

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Genio Seculi
darinn gefunden daß ich die andere Schrift nicht abwarten

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kann, um meine Neugierde zu stillen. Kennen Sie selbige, so bitt mir Ihr

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Urtheil aus, meins zu berichtigen. Häfeli war so grosmüthig mir die Schrift

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anzubieten; ich bin aber ohnehin in seiner Schuld, und ich hoffe sie bald zu

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sehen um ihm antworten zu können. Ich bin in der Verlegenheit gewesen

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ihm eine Sache zuzumuthen, in welche ich mich weder selbst mischen noch

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gute Freunde
compromitti
ren mag. Es war eine elende Pfarre auf den

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Deßauschen Gütern, wo unser jetzige Altst.
Diac.
Kraft, (der vielleicht auch

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Ihr akademischer Freund, wie von Fischer u
Scheffner) seyn mag
seinen

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alten Schulmeister anbringen wollte als einen ehrl. u durch seinen

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Nachfolger geplackten Mann.

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Weil Köhler nicht außer der morgenl. Prof. die griechische und dritte

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juristische erhalten, ist jetzt im Abzuge. Man hat in Berl. an
Hill
gedacht;

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er ist aber noch zu unreif u vielleicht zu Schade für ein öffentl. Amt. Meine

S. 242
Lisette Reinette
hat den
Generalbass
bey
Podbielski,
der sich über den

2
Fortgang dieses Mädchens durch die bloße Nachfolge einer Freundin, die seine

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beste Schülerin so gefreut, daß er aus Neigung ihr weiter hilft. Hill setzt das

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italienische fort und qvält sich mit Lehnchen u Marianchen auf dem Clavier.

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Raphael lehrt die eine schreiben die andere lesen und HE Johannes studiert

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sich gantz zum dollen Greeken, weiß aber weder Bu noch ba von Philosophie

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und Mathematik. Es fehlt also nicht an häuslichen Freu
n
den –

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An öffentl. Leiden auch nicht. Kein Gekoch, keine Zufuhr; das Stein Butter

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20 fl. kein Futter, Gerüchte von Viehsterben und lauter Aspecten noch

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schlechterer Zeiten. Ein Sch‥knecht hat sich gelüsten laßen vorige Woche

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eine gantze Fuhr mit Würsten,
s
Sie können leicht erachten welche? zu

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Markt zu bringen –

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Lohnt es wohl Ihnen solch Zeug zu lesen zu geben – Es ist Zeit

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aufzuhören. Sie sehen, lieber alter Freund, daß ich noch lebe und schmiere. In

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Wandsbeck soll auch alles wider auf den alten Fuß seyn. Die Ankündigung

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einer neuen Uebersetzung habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen, auch

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keinen Wink deshalb. Er hat einen Vetter
Lorck
hier aus Flensburg, der

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mich mit seinem Herrn einmal besucht, aber noch keine Gegenvisite gemacht.

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Aus Münster keine Zeile erhalten seit seiner Ankunft. Gnug für mich, daß

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alles nach Wunsch dort geht.

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Empfehlen Sie mich meiner verehrungswürdigen Frau Gevatterin, welche

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Gott stärken wolle, und Sie mit Ihrem ganzen Hause seegnen. Von mir

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und den Meinigen, worunter auch Hill gehört, die zärtlichen Grüße und

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Küße. Ich umarme Sie und ersterbe   Ihr   alter ewiger Freund

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Johan Ge.H.


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Mein Kopf ist leer und wüste, daß ich abbrechen muß – und den Brief

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mir aus dem Gesichte schaffen. Ersetzen Sie alles, woran ich nicht denken

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kann. Gott empfohlen. Küßen Sie Pathchen.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 294–295.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 298–301.

ZH VI 238–242, Nr. 922.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
239/25
sind
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
sind.
239/35
Assa foetida
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Assa foetiola
241/32
Scheffner) seyn mag
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Scheffner seyn mag)