923
243/2
Düßeldorf, den 23
ten
Jan 1786.


3
Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):

4
Erh. den 6 Febr 86

5
Geantw
eod.
N
o
25.


6
Heute früh, mein Herzinnig geliebter Hamann, erhielt ich Ihren Brief

7
vom 10
ten
– 12 Jan. Sie sagen mir nicht daß Sie den meinigen den Sie

8
erwarteten (v
30.
ten
Dec.) erhalten haben. Der niedergeschlagene Ton,

9
vornehmlich bey’m Schluße Ihres Schreibens macht mich bekümmert. Ach daß

10
ich nicht zu Ihnen hin fliegen u selbst sehen kann! Am Sonnabend erhielt ich

11
auch v Herder, bey Gelegenheit eines Einschlußes an Camper den ich

12
befördern soll, einen Brief voll Sorge für seinen alten u frühesten Freund,
den

13
Freund seiner Freunde
. Ich soll Sie schonen;‥ soll helfen Ihnen

14
heiter u still Ihre Reise auf den künftigen Frühling möglich machen… Wie

15
gerne will ich das. Aber alles Eingreifen läuft gegen meinen Character. So

16
gern ich gehorche, mich zufrieden gebe, zu thun auf einen Wink bereit bin: so

17
ungern mache ich Vorschläge, oder ertheile Rath – Laßen Sie mich laut

18
anstimmen:

19
Wer nur den lieben Gott läßt walten – Ich kann das Geflüster um
Ihn

20
herum nicht leiden. Ich hab’ es in der Erfahrung überall so armselig

21
gefunden. Also, lieber Haman,
Er
sey mit uns! und wir gehen unsern geraden Weg.

22
Ich hoffe sehr darauf mit nächster Post wieder Nachricht von Ihnen zu

23
erhalten. Daß die Nachricht v Mendelssohns Tode Sie rühren würde, hatte

24
ich erwartet. Claudius schreibt mir, Nikolai hätte eine Alfanzerey auf

25
seinem Grabe gemacht, des Inhalts: „daß der
alte
Moses noch wohl von ihm

26
(dem M. M.) hätte profitieren können, wenn sein gutes Glück ihn zu

27
unserm Zeitgenoßen gemacht u seine Morgenstunden hätte frequentieren

28
laßen.“ – Es freut mich daß es die Ausführung Ihre
n
s Plans erleichtert,

29
daß Mendelssohn Sie nicht zu lesen braucht. Dieser Umstand wird auch

30
mir dereinst zu statten kommen.

31
Der größte Theil des Inhalts v Ihrem heute eingelaufenen Schreiben,

32
ist durch die meinigen vom 6
ten
, 13
ten
u 17
ten
dieses schon beantwortet. – Mit

33
größtem Verlangen sehe ich neuen Beylagen entgegen, u werde Ihnen über

34
alles meine innerste Herzens Meynung unverholen seyn laßen. Auf meine

35
Verschwiegenheit u treueste Befolgung Ihres Willens bis zur geringsten

36
Kleinigkeit, können Sie sich fest verlaßen.

S. 244
Den 17
ten
, Abends, da ich eben zu Bette gehen wollte, langte mein

2
entlaufener thörigter Junge an. Ich sah ihn, u er mich, nur mit einem Blicke.

3
Meine Schwester Lene beförderte ihn zu HE Schenk. Ein heftiger Sturm

4
hatte meinen Clermont mit seinen Töchtern genöthigt jenseits Rheins zu

5
bleiben. Diese –
Zärtlichkeit
(ich
fühlte
es so) der Vorsehung, bewegte

6
mich bis zu Thränen. – Alles war zur Ueberantwortung nach Wesel fertig.

7
Schenk aber, der am ernstlichsten für diese Maaßregel gesprochen hatte, fand

8
den Jungen so zerknirscht, so gedemüthigt bis ins Mark, daß er anderer

9
Meynung wurde. In einem Athem war er v Zelle bis nach Hamburg

10
gelaufen, auch zu Wandsbeck vor Claudius Thüre gewesen; hatte sich aber nicht

11
überwinden können hinein zu gehen. Auch nicht nach Zelle zurück zu kehren,

12
ob er gleich eingesehen daß dies das vernünftigste sey. Ich sollte mit ihm

13
machen was ich wollte, darum wäre er gekomen. Nun bin ich würklich sehr

14
verlegen was ich mit ihm mache. Wie der junge Mensch beschaffen ist,

15
werden Sie ohngefähr aus den hiebey kommenden Auszügen sehen.
*
Wenn Sie

16
einen guten Rath wißen, so theilen Sie mir denselben mit. Er war 2 Jahre

17
in Claudius Hause; 4 Jahre bey der Prinzeßinn von Galitzin;
u nun wieder

18
5/4 Jahr bey mir. Ihn irgend unter eine strenge Gesetzliche Form zu

19
bringen, die mehreren gemein wäre, wäre wohl das Beste; aber wo findet sich

20
eine solche Anstalt? Ihn blos einem Hofmeister zu unterwerfen möchte nicht

21
hinreichen; wo findet sich der Mann, der in diesem Falle meine Sache ganz

22
zu der seinigen machte? – Konnt ich mich doch nicht einmahl auf mich selbst

23
hierin verlaßen.

24
Die Rec. meiner Briefe in den Götting. Anz. ist gewiß nicht v Herder. Da

25
müßte sie aus andern Augen sehen. Würde auch fast durchaus anders lauten.

26
Das Blatt der
Ideen
Litt. Z. welches die Rec. v H Ideen Th
II
enthält,

27
ist noch nicht hier. Ich habe aus Ungeduld darum nach Duisburg schreiben

28
laßen, aber es auch von da her nicht erhalten.

29
Daß bey’m Durchsehen der Morgenstunden Ihr BilligungsVermögen

30
eben so aufgebracht gewesen wie das meinige, freut mich sehr. Daß die

31
Zusätze v Reimarus herrührten, verstand sich bey mir v selbst, u ich glaubte,

32
nach dem was ich Ihnen geschrieben hatte, es wäre eben so bey Ihnen. Sie

33
fragten mich gleich anfangs, was die Sternchen S 174 meiner Schrift

34
bedeuteten, u ich nannte Ihnen den Eingebohrnen der Fragmente. Mir graut

35
vor den Vorlesungen
wenn
nebst Zubehör, wenn ich einmahl sie werde

S. 245
lesen müßen – Wenn Eifer für Hirngespinste das
Charakterischtische
des

2
Fanatismus ist, so giebt es jetzt in Deutschland keine ärgere Fanatiker als die

3
Berliner. Sie selbst können das nicht glauben, weil sie sich v Schwärmerey

4
eben nichts zu Schulden kommen laßen –
Messieurs les
bande-à-l’aise
!

5
Ich soll zu Tische u muß also schließen, weil ich, meiner Gäste wegen,

6
länger aushalten muß, u die Briefe vor 4 Uhr auf der Post seyn müßen.

7
Gebe Gott daß ich übermorgen erfreuliche Nachrichten v Ihnen erhalte.

8
Mit meiner Gesundheit habe ich Ursache gerade so zufrieden zu seyn, wie mit

9
meinem Göttingischen Recensenten: sie ist sehr erträglich. Vor dem Tod in

10
Töpfen,
b
vor dem Sie mich warnen, bin ich, so lang ich die 4 Mädchen

11
im Hause habe ziemlich sicher. Aber ach, ist nicht in allen unsern Töpfen der

12
böse Tod! Es leidet einen guten Sinn was Spinoza sagt, daß der Weise sich

13
nicht um den Tod, sondern
nur das
Leben bekümmere u darauf bedacht

14
sey. –

15
Bey allem dem, aber auch eben deswegen:
cura ut valeas
!

16
Von ganzem Herzen

17
Ihr F. H. Jacobi.


18
Warum, Lieber, laßen Sie Ihre Briefe an mich nicht durch Fischer

19
besorgen? Es ist nicht recht daß bey einem Briefwechsel, wovon ich weit den

20
größten Vortheil ziehe, Sie nicht alle die Mühe, sondern auch noch

21
Unkosten haben. Ihre Briefe
fr
co
Wesel kommen alle ganz frey in meine

22
Hände, weil ich, als ein Glied der Dicasterien, auf allen Kaiserlichen Posten

23
die Postfreyheit genieße.


* Diese Abschrift ist v Schenk.

Dem Brief lagen zwei Auszüg aus Briefen Friedrich Heinrich Jacobis bei, in der Abschrift Schenks.

1. Friedrich Heinrich Jacobi an Andreas Ludolf Jacobi (Vetter), 5. September 1785 (vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 167):

S. 558
Aus einem Schreiben an den Herrn Land Syndikus Jacobi

2
5
ten
Sept. 1785.

3
… Alles was wir thun mögen, wird nicht helfen, wenn nicht genaue Maaßregeln

4
genommen werden, daß mein Sohn immer beschäftigt, und in einer Art von

5
Gedränge von Arbeit ist, und zwar so, daß es ihm unmöglich wird, sie nur

6
schlaudrig zu verrichten. Es brauchen nicht lauter Arbeiten zu seyn, die

7
den Geist anstrengen, sondern auch andere die mehr zum Vergnügen dienen,

8
wie reiten, fechten, zeichnen u. dgl., nur dies alles unter scharfer Disciplin,

9
so daß Fleiß und Kräfte dabey in Uebung gesetzt werden. Läßigkeit in dem

10
was gethan wird, scheint mir die schlimmste Art des Müßiggangs zu seyn,

11
und gerade zu diesem bösen Müßiggange hat mein George einen schrecklichen

12
Hang. Dieser Hang kann nicht überwunden werden, als indem man ihm nie

13
zuläßt, etwas nur halb zu thun. Ohne Gefühl der Ehre ist er nicht; auch nicht

14
unempfindlich gegen Beweise von Vertrauen und Liebe: aber er kann nicht

15
anhalten, und seine
vis inertiæ
gewinnt immer bald wieder die Oberhand. &
c.
2. Jacobi an Johann Friedrich Jacobi (Onkel), 26. Mai 1785 (vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 102):

558/16
Aus einem Schreiben an Herrn Consistorial Rath Jacobi vom 26
ten
May 1785

17
Als ein rechtschaffener Mann bin ich verpflichtet Ihnen zu sagen, daß mein

18
Sohn Ihnen manche trübe Stunde machen wird. An Fähigkeiten mangelt es ihm

19
nicht, aber alle Anstrengung ist ihm zuwider, und es hat noch kein Mittel

20
ausfündig gemacht werden können, ihm zu irgend einem Guten eine standhafte

21
innerliche Liebe einzuflößen. Zur Verstellung und zu Tücken ist er von Natur

22
nicht aufgelegt; da er aber weich, reizbar, unbesonnen und heftig ist, so kann

23
er auch nicht grade, nicht edel seyn, und muß sich in seinen Neigungen,

24
Absichten, Entschlüßen unaufhörlich verwickeln. Ueberhaupt fehlt es ihm

25
an Mitgefühl, an Herz, und wie sein Körper plump ist ohne ungeschickt zu

26
seyn, und bey aller seiner Trägheit, wenn es seyn muß, doch behende, eben

27
so auch seine Seele. Ein vortrefflicher Mensch wird er nimmer. Aber manches

28
würde sich doch ändern, wenn in seinem schweifenden, losen, unzusammenhangenden

29
Wesen nur ein richtender Mittelpunkt einmahl entstehen und sich fest

30
setzen könnte‥‥

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 31–34.

ZH VI 243–245, Nr. 923.

Zusätze fremder Hand

243/4
–5
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
243/2
Düßeldorf, […] 1786.]
Am Briefkopf, jeweils mit Bleistift und Tinte, von fremder Hand: „Antwort auf den Brief vom 10
ten
u 12
ten
Jan.“
243/5
N
o
25.
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
243/8
30.
ten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
30
ten
244/1
–17
Den […] Galitzin;]
In der Handschrift mit diagonalem Strich durch die Passage, vmtl. nicht von Hamann oder Jacobi.
244/5
fühlte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
fühle
245/1
Charakterischtische
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Charakteristische
245/4
bande-à-l’aise
!
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
bandes à l’aise
!
245/13
nur das
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
nur um das