942
308/2
Kgsb. den 11 März 86.
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Viel Glück, liebster Jacobi, wenn Sie arbeiten und schreiben. Wenigstens
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wär es mir lieber und beßer als krank zu seyn.
Diesen Mittwoch
lieg
ich
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voller Ungedult zu Fischer; anstatt eines Briefes von Ihnen wurde ich mit den
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2 Recensionen unsers lieben Cl. erfreut, welche ich zum
Dessert
des
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Haselhünerschmauses erhielt. Ungeachtet keine Zeile dabey war, danken Sie ihm
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doch herzlich in meinem Namen. Er hat seine Sachen so gut gemacht, als es
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keiner ihm nachthun wird. Die beyden Bogen circuliren noch immer; Kant
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erhielt sie erst gestern Abend, und ließ mir durch meinen Sohn sagen, daß er
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sie noch gestern mit
vielen
Vergnügen durchgelesen.
Vorgestern brachte mir
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noch ein Freund den März der Berl. Monathsschrift, wo alles noch von
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M. M. überläuft, unser Landsmann
Patroclus
wegen seiner
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Zudringlichkeit
abgefertigt wird,
und man Sie öffentlich auffordert das zu
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verantworten
, was
jener erzählt
. Es steht nun bey Ihnen, zu
compar
iren.
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Wenigstens ist kein
Termin
Ihnen angesetzt. Die
Recension
der Jenaischen
17
lateinschen Zeitung ist auch schon hier, habe selbige aber noch nicht erhalten
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können, und die mir gemachte Anzeigen widersprechen sich einander – muß
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also abwarten. Diesen Morgen habe zum herrlichen
Digestiv
Adelungs 2
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und 3 Theil über den deutschen Styl durchgelaufen; nachdem er mir lange
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versprochen worden, fiel er mir gantz ungefähr in die Hände, und die
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Arzeney that gute Wirkung – –
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Gesetzt, liebster J.J. daß ich Ihnen auch wie ein wankend Rohr
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vorkomme, daß vom Winde bewegt wird; so muß ich mich doch entschließen den
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Rath meines Freundes
Crispus
zu befolgen, der mir die Absendung meiner
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Handschrift so lange abrieth, bis ich das Ende meiner Arbeit absehen konnte.
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Ich blieb Dienstags ausdrücklich zu Hause, um darinn fortfahren zu
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können: aber es war schlechterdings unmöglich. Sie werden mir allso Ihre
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freundschaftl. Gedul
l
t u Nachsicht bey meiner Gemühtslage nicht
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versagen. Ich muß mir schlechterdings Zeit nehmen und laßen – widerruffe
31
also alles was ich im
trunknem
Geiste und Muthe vom anzufangenden
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Abdruck geschrieben – bitte mir aber dafür, so bald Sie nach Beqvemlichkeit
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können mir eine Abschrift unsers lieben
Tiro
zuzufertigen, deßen Hand die
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Stelle des Drucks bey mir vertreten wird. An den wirkl. Abdruck wird nicht
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eher gedacht, als biß ich Ihnen die ganze Handschrift überschicke, woran ich
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bey aller meiner Furcht und Angstlichkeit noch nicht gantz
verzweifele
.
S. 309
Sie werden so gefällig seyn meine Handschrift nebst Anliegen des Herzens
2
unserm B. mitzutheilen, von deßen
Gutachten
ich
schlechterdings
3
abhängen
will, welches er mir hoffentlich auch nicht versagen wird – es
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mag nun übrigens ausfallen, wie es wolle. Ich brauche eine Abschrift
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deßhalb, weil ich aus meinem Geschmiere fast gar nicht das abgeschickte
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widerherzustellen im stande bin, und gern Ihre Anmerkungen zugl. dabey
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gewinnen möchte. Der erste Bogen zum Druck möchte kaum meine Eile nöthig
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haben; aber vom zweiten bin ich des Gegentheils beynahe versichert. Mein
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Kopf ist so schwach und bisweilen so warm, daß ich mich auf nichts besinnen
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kann, was ich im letzten Fall besonders – ausschütte. Ich glaubte, wenn ich
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nur erst mit der eigentl. Recension fertig wäre, die mir eckel war, daß ich
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desto mehr Luft zu den übrigen Materien schöpfen und gewinnen würde –
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aber ich erfahre das Widerspiel; und nun ich glaubte erst einen rechten freyen
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Spielraum für meine Gedanken zu haben, komm ich nicht von der Stelle
und
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es geht mir wie einem stätigen Pferde, das sich immer bäumt, aber nicht fort
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will –
beynahe
bin ich auf meine Muse so aufgebracht wie jener
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Lügenprophet auf seine Eselin, die vor einem ihrem eigenen Herrn unsichtbaren
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Engel auf die Knie fiel.
Ich habe durchaus Zeit nöthig um meine Gedanken
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in Ordnung und zur gehörigen Reife zu bringen, und hoffe, wenn ich mit der
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Arbeit fertig werde und im stande seyn werde Ihre u des Alcibiades
21
Erinnerungen nützen zu können, Ihnen das Gantze auf einmal und
rein
zum
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Abdruck liefern zu können. Daß mir an einem
guten Ende
meiner
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Autorschaft gelegen ist und seyn muß, können Sie leicht erachten. Ich will allso
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alle meine Kräfte aufbiethen, und alle menschliche Vorsicht, daß nicht das
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Letzte ärger werde als das Erste;
denn unter keiner andern Bedingung als
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der eines
guten Gewißens
kann man dem Schicksal und der Welt
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Urtheil Trotz bieten.
Religion
,
Patriotismus
,
Selbstliebe
und
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Freundschaft
soll
t
en die Leuchtthürme unsers Lebens seyn. Wir
29
können aber auch leicht
Irrlichter
dafür ansehen, besonders wenn
es
man
30
hernach
auch singen
ließe
kann:
31
Mitternacht heist diese Stunde!
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Es gehört also mehr wie eine Kritik der reinen Vernunft und des guten
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Willens dazu, um solche vier Leidenschaften zu Paaren zu bringen; da eine
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einzige stark gnug ist, uns schwindlich zu machen.
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Ich
hoffe
daß dieser Brief nicht zu spät kommen wird, dem Abdruck
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Einhalt zu thun, und daß Ihnen auch dadurch ein Gefallen geschehen wird, wenn
S. 310
Sie die Preße und die Zeit zu Ihren eigenen Arbeiten etwa brauchten. Aber
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melden Sie mir doch wenigstens, was Sie machen; denn ich
bin
beynahe
3
eben so verwöhnt, als Sie mit jeder Post was Neues aus Preußen zu hören,
4
wenn gleich ein kalter Boden nicht so
unfruchtbar
seyn kann, als ein
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wärmerer.
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Nun ich hoffe, lieber J. Sie werden mit mir Gedult haben, und mich mit
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meinen
Curis posterioribus
nicht auslachen. Ich bin nicht Herr von
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meinem Kopf, noch Magen noch Geblüte – und ich glaube, daß meine gemachte
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Ueberlegungen mir
Nachwehen
ersparen werden.
Crispus
dringt in mich,
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fortzufahren; aber ich traue mir selbst nicht, geschweige ihm. Vor einigen
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Jahren machte er in meinem Hause ein Experiment
invita Minerua
ein
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Autor zu werden, das ihm bald schlecht bekommen
werde
. Ich habe ihn und
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mich selbst daran erinnert, zu meiner eigenen Warnung, die ich jetzt nöthiger
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zu haben glaube, als er.
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Meine Bitte ist also um eine Abschrift, Ihre Erinnerungen, und mir das
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freundschaftl. Gutachten Ihres Nachbarn mit Bedacht zu verschaffen – um
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wider einen Stoß durch neue Gegenstände zu erhalten. Kommt eine
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Schäferstunde unterdeßen; so fahre ich fort, und will selbige nutzen.
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Reminiscere!
12. März 1786
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Kraus und nachher ein anderer Freund sprachen gestern bey mir an. Ich
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wollte eben mich heute anziehen, um wenigstens frische Luft zu schöpfen, da
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ich von Kant die lateinsche Zeitungen erhielt, wo ich gleich nach No 36
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suchte. Nun fehlt noch die Allgemeine deutsche Bibl. Mir ist so übel und
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weh, alles so eckel, daß ich nichts hören noch sehen mag. Ich habe mich eine
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halbe Stunde umgetrieben, bin wider meine Gewohnheit in 3 Kirchen
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angesprochen, und eilte wider nach Hause.
Ach lieber J. wenn es Ihnen nur
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nicht
mit dem Publico geht wie mit deßelben Hohenpriester M. M. Je
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mehr man schreibt und redt; desto mehr giebt es Misverständniße, und
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Nebenumstände, um die Sache selbst an seinem Ort gestellt zu seyn laßen, und
30
die man sich zu Nutze macht zur Chikane
– und davon lebt man. Wenigstens
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müßen wir beyde unsern Styl reformiren, und die Erinnerungen der Herrn
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Grammatiker uns nicht umsonst gesagt seyn laßen. Ohngeachtet ich ein
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größerer Sünder und Verdamnis bin als Sie, machen auch die 3 letzten Bogen
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die Sache und Absicht ein wenig verdächtig.
Man
will
das nicht
wißen
35
noch verstehen, was sie eigentlich sagen wollen. Alles
beßer sagen
wird
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das Uebel ärger machen. Der letzte Gesichtspunct, worinn Sie sich
S. 311
versetzen, widerlegt alle Fragen und Untersuchungen, und hebt selbige auf,
2
wenigstens ihren Werth und Gewicht, und die Veranlaßung der öffentl.
3
Bekanntmachung. Sie hätten also lieber mit diesem Schlüßel noch an sich
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halten sollen, und er muste das Ansehen eines
philosophischen
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Hochverraths
und eines
Mantels
sich selbst zu decken bey arglistigen
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Lesern Ihnen zuziehen. Doch es wird dabey nicht bleiben, und Kant wird auch
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zu einer Erklärung gebeten, die nicht ausbleiben wird, da Schütz ihm
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gemeldt haben soll, daß man ihn in dortigen Gegenden wegen einer
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Gemeinschaft mit dieser Lehre in Verdacht haben und dieser Verdacht zunehmen
10
soll
11
Meinen Rath habe ich Ihnen gegeben, und ich kann es Ihnen nicht
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verdenken liebster J. wenn er Ihnen so feige vorkommt, als ich selbst geworden
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bin. Sie theilen also blos nach Ihrer Gemächlichkeit die Sache unserm
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Freunde mit, und melden
mir
ob er sein Gutachten darüber ertheilen will,
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und fangen den Druck nicht eher an zu besorgen, bis Sie das Gantze
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erhalten. Ertheilen mir mittlerweile Ihre eigene Erinnerungen so wohl als so
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bald Sie können Ihre Entschließungen wegen Ihrer eigenen Arbeiten mit.
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Sollte wider Vermuthen Unpäßlichkeit an Ihrem Stillschweigen schuld
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seyn: so ist Freund
Tiro
Schenk so gut, Ihre Stelle zu vertreten. Ich bin
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nicht im stande mehr zu schreiben, und ersterbe
21
Ihr
22
trotz allem Wandel unveränderter
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Joh. Georg H.
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Wenn heute meine Handschrift antrifft: so sollte es mir leid thun, im Fall
25
sie Ihren
Circul stören
sollte. Freundschaft und Gefühl wird alles
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ersetzen, was ich wegen Entfernung nicht geschwind u bald gnug mittheilen
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kann. Zum voraus laß ich mir alles herzlich gefallen, was Sie für
gut
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finden und entschließen.
Alea iacta est,
und ich weiß selbst nicht, was ich
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schreibe. So viel ist ausgemacht, daß ich Zeit gnug komme, je später je lieber,
30
zum Druck.
31
Adresse:
32
An / HErrn Geheimen Rath Jacobi / zu /
Düßeldorf
.
F
co
Wesel.
33
Vermerk von Jacobi:
34
Koenigsberg den 11
ten
März 1786
35
J. G. Hamann
36
empf den 24
ten
–
37
beantw den 25
ten
–
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 177–181.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 256–260.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 101–104.
ZH VI 308–311, Nr. 942.
Zusätze fremder Hand
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311/34 |
Friedrich Heinrich Jacobi |
|
311/35 |
Friedrich Heinrich Jacobi |
|
311/36 |
Friedrich Heinrich Jacobi |
|
311/37 |
Friedrich Heinrich Jacobi |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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308/4 |
lieg ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: lief |
|
308/4 –11
|
Diesen […] durchgelesen.] |
Die Passage ist in der Handschrift von Jacobi am Rand markiert. |
|
308/11 |
vielen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: vielem |
|
308/14 –15
|
und […] compariren.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
308/31 |
trunknem ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: trunkenen |
|
309/14 –18
|
und es […] fiel.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
309/16 |
beynahe ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Beynahe |
|
309/25 –34
|
denn […] machen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
309/35 |
hoffe ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: hoffe, |
|
310/4 |
unfruchtbar ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: fruchtbar |
|
310/9 –14
|
Crispus […] er.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
310/12 |
werde ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wäre |
|
310/26 –30
|
Ach […] Chikane] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
310/34 –311/10
|
Man […] zunehmen soll] |
Von Jacobi teils unterstrichen, teils am Rand markiert. |
|
310/34 |
wißen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wißen, |
|
311/10 |
soll ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: soll. |
|
311/14 |
mir ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: mir, |
|
311/32 |
F co Wesel. |
Hinzugefügt nach der Handschrift. |