944
S. 315
Kgsb den 15 März 86.
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Herzlich geliebtester Freund J.J. Diesen Morgen gieng schon frühe die
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Post vorbey und fand Fischers Name auf der Charte. Endlich brachte mich
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auch Hill Ihren Brief, der in der Nachbarschaft wohnt, und brachte mir ein
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wenig nach 10 Uhr, da ich schon alle Hofnung fast aufgegeben und mich auf
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den dritten
leeren
Posttag gefaßt gemacht hatte. Ich erinnerte mich zwar
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einige Bedenklichkeiten wegen unsers Briefwechsels geschrieben zu haben,
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von dem ich wirklich besorgte, daß er wegen meiner Nachläßigkeiten und
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Ungleichheiten Ihnen überlästig werden müste. Was ich den 15
pr.
geschrieben,
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weiß ich nicht mehr um mich näher darüber erklären und rechtfertigen zu
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können. Es geht mir wirklich nicht viel beßer, als dem lieben alten Herrn,
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mit dem Sie auch Gedult haben – Ich habe beynahe mein eigen Bild in Ihm
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erkannt
.
Ich war Ihrentwegen besorgt, und traute Ihrem
Lachen
nicht –
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Ihr Stillschweigen machte mich besorgt, daß Sie zu eilfertig und nicht mit
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gehöriger Kälte antworten, oder sich gar zu verantworten die überflüßige
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Mühe geben würden, und daß Sie von Freunden und Feinden dazu gereitzt
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werden möchten. In diesem einzigen Punct bin ich mistrauisch gewesen.
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Meine Lebensgeister sind in solcher Ebbe und Fluth, daß ich gar nicht Meister
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davon bin, und was ich weiß oder nicht weiß geschrieben zu haben, macht mir
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öfters so viel Unruhe, daß ich mit einer ähnl. meinen Freund gern
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verschonen möchte.
Sie sind der Einzige seit langer Zeit, dem ich gegenwärtig zu
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schreiben im stande bin.
Ich fühle die Bedürfniße einer Reise je länger je
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mehr zur Widerherstellung meiner Gesundheit und Gemüthsruhe;
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demohngeachtet kann ich mich nicht entschließen die Feder dazu anzusetzen. Alle Briefe
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des vorigen Monaths sind treue Copien meines wankenden Gemüths von
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einem Äußersten zum andern. Laßen Sie sich dadurch liebster J. nicht irre
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machen. – Vorigen Sonntag schrieb Ihnen, wie mir zu Muthe gewesen, daß
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ich von einer Kirche in die andere lief. Mein ganzer Rumpf war wie ein
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voller Schlauch. Dem ohngeachtet aß ich Mittags mit Geschmack u.
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Appetit. An Arbeiten war nicht zu denken. Ich war froh mit Ihrem Briefe fertig
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zu werden. Kommt gegen Abend Kraus, als wenn er verscheiden und
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Abschied nehmen will. Zum Trost erzählte ich ihm meinen eigenen Zustand.
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Wein halte ich niemals, sondern Bier, daß ich nur des Abends um 8 Uhr
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gewöhnlich anfange zu trinken zu einer einzigen Pfeife Toback. Ich schob
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die Schuld auf die elende Witterung, und bot ihm die letzte Bouteille an,
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welche von unserm Haselhünerschmauße übrig geblieben war, weil es mir
S. 316
schien, daß ihm der Wein damals geschmeckt hatte, den ich dem Reg.
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Feldsch. Miltz zu Gefallen hatte holen laßen und ein Lieblingswein meines
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seel. Vaters war.
Mann
nennt ihn hier
Roquemon;
er ist das aber gar nicht
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mehr, was er damals war. Jeder trunk von uns 2 Gläser, und mein Freund
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schien vergnügter fortzugehen, als er hergekommen war. Ich hatte eben
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einen Brief zu beantworten angefangen der mir schon einen Monat im
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Wege gelegen hatte. Mein Sohn geht mehrenteils alle Sonntage des
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Abends bey
Banco-Dir. Ruffmann.
Ich schreibe immer fort und zähle kaum
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gegen 9 Uhr, da der Nachtwächter 10 abrufft. Alles was ich geschrieben
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hatte, war dummes Zeug, das ich
cassi
ren muste. Thue ein paar Züge aus
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meiner gestopften Pfeife um meinen Sohn abzuwarten, trinke anstatt
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meiner 2
Bouteillen
nur ein paar Gläser Bier. In meinem Bette fängt mein
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Kopf an zu arbeiten, sehe meinen ganzen fliegenden Brief fertig, melde
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Herder, mache anstatt des
cassi
rten Briefes einen andern, schlaf erst gegen
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Morgen ein, und beym Aufwachen glaub ich das Ende meiner Arbeit
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bereits erlebt zu haben, bleibe ausdrückl. deshalb zu Hause. Wie ich mich
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hinsetze, und kaum einige Zeilen geschrieben habe, fühle ich alle meine
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Eingeweide in Empörung nach oben und muste Gott danken, daß ich aufhören
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konnte, hab auch seitdem nicht aus der Stelle kommen können. Bey solchen
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Phänomenen wird einem nicht gut zu muthe – und bey solchen Krämpfen, die
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mit noch stärkeren Erschlaffungen abwechseln, ist man seiner Sachen
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niemals gewiß –
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Ich hätte in der Nacht vor Freuden Hekatomben geopfert, und glaubte
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einen entscheidenden Ausschlag für das Ende meiner Arbeit wenigstens schon
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in Händen zu haben; wenn nicht alles auf einen wachenden Traum
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hinausgelaufen wäre.
Sie werden eben dergl. Symptoms von Unenthaltsamkeit
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und entgegengesetzter Zurückhaltung in den folgenden Briefen finden ohne
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sich deshalb zu beunruhigen.
Ich konnte mich auch auf des
Siegwart
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Fragment nicht mehr besinnen, wenn mich Hans Michael nicht auf die Spur
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geholfen hätte. Er hat heute bey Hippel gespeist, den ich seit langer Zeit nicht
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gesehen, aber noch diese Woche besuchen werde.
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den 16 –
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Was Göthe schreibt wegen seiner Gedichte ist ungemein nach meinem
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eigenen Geschmack. Ich weiß nicht wie die Allg. L.Z. dazu komt das Gedicht als
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einen Anhang anzuführen; aber dahin gehört es beßer als vorn zu stehen.
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Das Gedicht hat wegen seiner darinn liegenden Wahrheit und Stärke einen
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schönen Eindruck auf mich gemacht, der dem Urtheil der Berliner immer
S. 317
widersprach. Da ich von Poesie nichts verstehe, so frug ich Kraus, der ihm
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blos
Härte
vorwarf, die mir bey so einem Gegenstande Treue und Natur
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zu seyn scheint, den Gegenstand darstellt und dem Inneren deßelben
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angemeßen ist. Ich habe diesen Gesichtspunct auch in meine Schrift
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aufgenommen
.
6
Ihr Motto habe in meinem alten
Cicero
gefunden. Da der forschende
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Leser nur finden wird, daß dort von Juden die Rede ist, so würde ich mich
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blos an dem
Summiss
a voce agam, tantum vt iudices audiant,
begnügen,
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und jenem auch die andern Züge überlaßen, oder sie lieber im Text
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anführen oder dahin wieder verweisen. Aber der Geschmack
cum adiuncto
sey
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keine Empfehlung für Sie.
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Zu antworten haben Sie im Grunde gar nicht nöthig – und noch weniger
13
sich dazu
reitzen
oder
zwingen
zu laßen. Ihr Stillschweigen wird den
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berl. Marktschreyern unerwarteter u empfindlicher seyn, als die beste
15
Antwort. Höchstens laßen Sie Ihre Antwort, auch dem mitleidenden Göthe zu
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Gefallen, blos auf den historischen Theil gehen, mit dem er gleichfalls
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zufrieden gewesen.
Sagt Ihnen Ihr Genius etwas
anderes;
so hören Sie ihm
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mehr als Freunden und Feinden. Aber unser
Genius
kann so gut irren, als
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unser Gewißen.
20
Ohngeachtet ich meinen wachenden Traum beynahe für ein Unterpfand
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meiner Autorschaft angesehen hatte: so bleibt alles bey meinen jüngsten
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Erklärungen. Sollten Sie sich mit dem Abdruck des ersten Bogens übereilt
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haben: so ist nichts daran gelegen. Mit dem zweiten warten Sie bis ich
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alles übrige auf einmal überschicke. Aber meine Abschrift von unserm Freund
25
Tiro
Schenk ist mir unentbehrlich, wie eine Zeile von Alc.B. zur Stärkung
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auf beyde Fälle; denn sein
Stillschweigen
wird mir unerträglich.
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Hab ich ihm was zu Leide gethan: so muß ich es doch auch wißen – die
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Wahrheit kann keinem von uns beyden schaden; und auf deßen Seite sie ist,
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mag sie für sich selbst handeln. Er ist eben so gut in meiner Schuld, wie ich
30
in
s
Seiner und
Suum cuique!
31
Nun erwarte ich wegen Ihres Sohnes den versprochenen Aufschluß. Was
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macht ihr ältester zu Aachen? Haben Sie ihn dem Handel oder
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Wißenschaften gewiedmet. Wer ist G. Fritz?
Kant hat wahrscheinl. dem Schütze alles das
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geschrieben was er mir u andern hier gesagt, und Schütze hat blos seine
35
Wendung daher genommen ihn zu Erfüllung seines Vorhabens aufzumuntern.
36
Das Herz Ihrer
φφ
ie, die Resignation auf das Seyn in dem Schein des
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Seyns ist noch eben ein solches
Rätzel
für mich, als Ihnen mein
etiam
S. 318
ab hoste consilium.
Aus eben dem Grunde, warum Freunde Recht zu
2
haben scheinen, ist das Unrecht unserer Feinde auch ein bloßer
Schein
. Einer
3
solchen
Substitution
muß man
Gnüge zu leisten
suchen, um vor
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aller Selbsttäuschung sicher zu seyn. Jedes widrige Urtheil eines Feindes
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wie eine Arzney verschlingen, und jede
Douceur
eines Freundes sich selbst
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vereckeln, und seinem Geschmack daran entgegen handeln. Das Gedicht am
7
Anfange und der Schluß Ihrer Schrift waren in den Augen der Berliner
8
Douceurs,
die Sie hatten der Sache ersparen können – und man findet dort
9
im Atheismo, Pantheismo und
s
Spinozismo ein heroisches Mittel den
10
Aberglauben zu curiren. Gesetzt also daß
vox populi
auch im ärgsten
11
Verstande
vox DEI
wäre;
quid tunc?
durch
Gehorsam
und
Glauben
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siegen! Ich predige mir selbst, mein lieber JJ. nicht Ihnen. Ich rede aus
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Erfahrung, weil ich meinen Feinden wenigstens eben so viel Guts als meinen
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besten Freunden zu verdanken habe, und es ist eine wirklich christliche Pflicht
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jene zu lieben und diese haßen zu können mit einem: Gehe hinter mir Satan!
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zu einem Petro. Die
ganze Lehre des Sp
. ist in meinen Augen keiner
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Widerlegung werth, und der Rückzug hinter der Fahne des Glaubens muste
18
natürlich dem jüdischen
φφ
en
Thorheit
u
Aergerniß
werden in beyden
19
Verhältnißen seiner Religion sowohl als Philosophie. Das
που
des
20
Antiprometheus ist ich weiß nicht wie? durch die lateinsche Zeitung an den
21
rechten Ort
versetzt. Das
που στω
ist im Grunde nicht beßer als eine
22
mathematische Windbe
y
uteley; wie mein wachender Traum. Kant kein
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Herkules, sondern ein wahrer Jünger des Prometheus, welcher aber gegenwärtig
24
in seinen Vorlesungen der Offenbarung ein Haufen
Douceurs
sagt. Maske!
25
Maske!
eine sehr wahre Weißagung im Munde Mendelssohns, wie er selbst
26
der Aethiopier, der Sie als einen Berliner beurtheilt, aber durch Ihre eigene
27
Schuld
und
Politik
. –
Ob ich Wort halten werde,
weiß ich noch
28
nicht
. Einem
Eidschwur
zu Gefallen möchte ich nicht gern den
Herodes
29
nachahmen, und dem Gefangnen
Prediger in der Wüsten
durch eine
30
Speculation den Mund stopfen. Es bleibt also bey der
widerholten
31
letzten Abrede
. Resignation auf allen
Schein des Seyns
zum Besten
32
des
wahren
Seyns
übersetzte ich Ihr Principium. Das Seyn läst sich
33
nicht
resigni
ren, ist nicht unser Eigentum, desto mehr als der Schein des
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Seyns das Eigentum der Kunst u Politik. Innerliche Ruhe = Seyn. Beym
35
Schein ist alles wandelbar, Schatten u Unruhe. Hab ich Recht? und meynen
36
Sie es nicht so. Ein Seyn läßt sich im Schein nicht denken; aber wohl neben
37
und mit demselben, wie jeder Schatten nicht
im
Licht
s
noch
im
Körper,
S. 319
sondern
mit
jenem und
neben
diesem da ist. Seit den philosoph.
2
Vorlesungen habe ich kein schöneres beßers u kräftigers Buch gelesen als den dritten
3
Theil des Lienhard u Gertrud, so abscheulich auch
Pestalozzi
mein Held die
4
Sprache zum Volkston verstimmt hat.
Mein Hans Michel ist nicht so
5
wacker, wie ich ihn wünschte, ein Näscher und Confusionsrath, und Stotterer
6
wie sein alter Vater, der Gedult, Nachsicht und Hoffnung nöthig hat. Ich
7
umarme Sie und antworte so bald ich wider etwas erhalte. Leben Sie recht
8
wohl mit Ihrem gantzen Hause, wie mit dem seinigen Ihr alter
9
Johann Georg
10
Ich liebe Ihren Bruder G.
sub rosa,
auch unter andern dafür, daß er uns.
11
H. liebt, ungeachtet ich ihn von andern Seiten kenne ohne daß er es weiß, wie
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L. ihn gekannt zu haben scheint. Lesen Sie
Pestalozzi.
Ein Titel des Buchs
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paßt auf alle gute Leute, daß sie leider nöthig haben böse zu scheinen. Das
14
letzte Kapitel empfehle
Ihnen
und was er vom Predigen sagt, vernünftiger
15
als Müllers Tirade gegen die Bibel.
Vale et faue.
16
Adresse:
17
An HErrn Geheimen Rath
Jacobi
/ zu / Düßeldorf.
F
co
Wesel.
18
Vermerk von Jacobi:
19
Koenigsberg den 15
ten
Marz 1786
20
J. G. Hamann
21
empf den 26
ten
–
22
beantw den 7 u 14
ten
Apr.
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 181–186.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 261–266.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 111–115.
ZH VI 315–319, Nr. 944.
Zusätze fremder Hand
|
319/19 –22
|
Friedrich Heinrich Jacobi |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
315/13 |
erkannt . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: erkannt. |
|
315/21 –22
|
Sie […] bin.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
316/3 |
Roquemon; |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Roquemons, |
|
316/3 |
Mann ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Man |
|
316/26 –28
|
Sie […] beunruhigen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
316/36 –317/5
|
Das […] Schrift aufgenommen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
317/5 |
aufgenommen . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: aufgenommen. |
|
317/17 |
anderes; ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: anderes: |
|
317/17 –19
|
Sagt […] Gewißen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
317/33 –35
|
Kant […] aufzumuntern.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
318/1 –25
|
Aus […] Maske! Maske!] |
Von Jacobi teils unterstrichen, teils am Rand markiert. |
|
318/27 –319/4
|
Ob […] hat.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
318/32 |
Seyns |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Seyns , |
|
318/37 |
Licht ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Licht, |
|
319/14 |
Ihnen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ihnen, |
|
319/17 |
F co Wesel. |
Hinzugefügt nach der Handschrift. |