951
341/5
den 3 April Montags 86.
6
Sie sind mir recht so ein
quainty spirit,
wie der
Ariel
dem alten
7
Prospero
war. Gott gebe Ihnen liebster Jonathan nur Gesundheit, wie er uns
8
jetzt das schönste Sommerwetter seit Mitwochs geschenkt hat. Die Weichsel
9
u Gewäßer sollen so ausgetreten seyn, daß die Mittwochspost erst
10
Sonnabends ankam. Vorgestern schickte Hill und des Abends Raphael
mi
und
11
Michel zu Fischer, und sie brachten mir die niederschlagende Antwort, daß
12
nichts wäre – und aus Misverständnis die Nachricht, daß die Post schon
13
angekommen. Ich war ruhig genug gestern an
Herder
schreiben zu
14
können, und wurde gleichsam dazu
getrieben
so wol Seinet als Ihrentwegen,
15
habe ihn auch auf den Empfang des Anfanges vorbereitet, und ihm den
16
natürlichen Gang meiner überlegten und übereilten Schritte zu erklären
17
gesucht. Es war schon ziemlich spät gegen Abend, und beynahe beym Schluß
18
meines Briefes, wie ich ein
zwiefältiges empfieng
– als von der
19
Hand des HErrn. Es gieng mir eben so wie Ihnen wenn Sie überrascht
20
werden. Die Stärke der Briefe war mir schon eine Weißagung eines guten
21
Innhalts; und ich konnte sie nicht erbrechen, als bis ich erst diesen Empfang
22
unserm Freunde gemeldet hat
te
. Es war eine große Beruhigung für mich
23
vor
Empfang
an H. geschrieben zu haben. Ich antwortete nach M.
24
noch gestern bey Licht, und mein Joh. Mich. kam später wie gewöhnlich
25
zu Hause. Mein Alcib. ist
sich gleich
, und hat nichts wie Liebe und
26
Nachsicht für mich, vielleicht
zu viel
, wie Sie. Gott weiß es auch, daß ich dergl.
27
Heilsmittel nöthig habe. Seine Marianne ist auf
guten
Wege ihn vollends
28
glücklich zu machen. Um ihre Wehen zu erleichtern, wünschte ich, der Himmel
29
weis was, zu thun. Das Bild eines
geseegneten
Weibes ist mir immer
30
sehr lebhaft vor Augen und im Herzen. Wegen der Mühe zu lesen wird ihm
31
mein Brief
lang
gnug werden, und ich habe nichts Neues hinzuzufügen, als
32
daß ich mit Gottes gnädiger Hülfe
komme
, und so
bald
als ich nur immer
33
kann. Ich will in Weimar nichts als Herders Haus sehen, in Wandsbeck
S. 342
unsers Claudius Schloß, Ihr Museum in Pempelfort nebst allen dazu
2
gehörigen akademischen Wäldern anstaunen, statt des Danks mich mit Ihnen
3
zanken und überwerfen, damit Sie mich bald nach Münster befördern, wo
4
ich im eigentl. Verstande meine
Wohnung
aufschlagen werde, bis man
5
meiner auch überdrüßig wird – Und denn schlagen Sie, meiner beßern
6
Gesellschaft wegen, uns nicht eine Herberge auf einige Nächte ab, wenn ich
7
verspreche das zweite mal artiger als das erste mal zu seyn – Wenn der
8
Schwindel mich nicht abschreckte u die steile Alpen, so machte ich gern einen
9
Spuk in Z. wegen des dortigen Magnetismus, und kehrte geradesweges
10
desorgani
sirt in den Schooß meiner Mutter Erde zurück, um daselbst die
11
letzte Nothdurft meines Lebens zu verrichten mit einem:
Vti puto Homo
12
FVI.
13
Da sehen Sie, lieber Ariel Jonathan, daß ich schon im vollen Marsch bin
14
und daß ich heute unmöglich dem fliegenden Brief die Federn beschneiden
15
kann, u
nd
m ihn in einen kriechenden zu verwandeln.
Bey mir geht nichts
16
nach dem Lauf der Natur. Aus dem Schmetterling wird die Raupe, aus
17
dem Vogel ein Insect. Nun es gehe, wie es gehe!
18
Mach ich es doch nicht beßer, wie die Kinder, die so bald sie ihren Willen
19
bekommen, vor Muthwillen ausgelaßen sind, und eben so leicht heulen und
20
weinen
?
! Es hat mir wirklich um Sie leid gethan, und ich recht in Sorgen
21
deshalb gewesen, Sie durch meinen Briefwechsel irre gemacht zu haben, weil
22
er voller Widersprüche, wie ein treues psychologisches Journal meines
23
innern
und
äußeren
Zustandes, das blos ein Freund von gleichem
24
Schroot und Korn auszulegen im stande ist.
25
Sie nehmen es mir also auch nicht übel, wenn Sie erst mit nächster Post
26
den Probe- und Correctur Bogen zurück erhalten. Ich muß erst
Crispum
27
darüber zu rathe ziehen, und meinen alten Freund H. auch zum
28
Vertrauten
machen, um meine Laune seit dem 7
Xbr
die ihn näher als irgend
29
Jemand angeht, einigermaaßen zu rechtfertigen. Er ist auch der einzige
30
Judex competens
,
deßen politisches Urtheil ich darüber zu Rathe
31
ziehen kann und muß; denn im ästhetischen ist er auch
stark
,
aber sein
32
Geschmack hängt mehr an das Schöne, als Wahre.
33
Ich habe an meiner Schrift zwar nicht die Hand angelegt, aber immer
34
daran im Sinn gearbeitet, und entschloßen den alten Sauerteig meiner alten
35
Art und Natur völlig auszufegen. Der Anfang ist noch nach meinem Urtheil
36
derselbe u schl
l
iest mit der Episode des Mendelssohnschen Todes. Ihre
37
Gründe wegen der Parenthese von den
reinen Idealen
und des
S. 343
Nehusthan
machte mich auch bedenklich, und der eckle Zweykampf mit dem
2
dreyrumpfigen Recensenten sollte auch verkürzt, gemildert werden – Ihr
3
allzuscharf schneidt nicht
machte mir eine
T
tiefe Wunde und
4
drung ins lebendige Fleisch und Gefühl, weil eben die leidenschaftliche
5
Heftigkeit und Bitterkeit schien mir die wahre Ursache zu seyn, welche meinen Ton
6
so verstimmt hatte. Die strenge Gerechtigkeit selbst ist nicht lieblos –
7
Selbsterkenntnis ist und bleibt das Geheimnis ächter Autorschaft. Sie ist
8
der tiefe Brunnen der Wahrheit, die im
Herzen
, im
Geiste
liegt, von da
9
in die Höhe steigt, und sich wie ein dankbarer Bach durch Mund und Feder
10
ergiest, wohlthätig ohne Geräusch und Ueberschwemmung. Ich suche immer
11
in M. das was ihm zugeschrieben wird vom Berl. Recensenten
12
Xenophontische Simplicität, Roußeausche Wärme und Leibnitzische Erhabenheit
13
philosophischer Ideen. Je länger ich lese, je mehr befinde mich wie in einer Wüste,
14
die leer ist, Finsternis auf der Tiefe, und kein Geist Gottes schwebt auf dem
15
Waßer seiner Schreibart. War ich gewiß und kam es mir wahrscheinlich vor
16
mein Hirngespinst nur erträglich zu einer sinnlichdeutlichen Darstellung zu
17
bringen: so würde ich um eine
größere
Schrift bitten, und selbige fast
18
wünschen, besonders wenn selbige zugleich so rein und deutliche ist, wie diese
19
mir vorkommt zu den Noten. In Ansehung der übrigen Beobachtungen
20
haben Sie gleichfalls alles
anticipi
rt, weil ich meine Eindrücke nicht zu
21
entwickeln vermögend bin. Wenn auch aber die Schrift so bleibt: so finde ich
22
nichts daran
zu
auszusetzen. Was die Colonnen betrift; so überlaß ich
23
Ihrem Auge die
Bestimmung
des Raums. Nur was mich näher angeht,
24
ist ein reiner Titel ohne
Vignette
u Schmuck, und höchstens ein simpler
25
Strich zum Anfange und Ende. Das Misverhältnis des
Α–Ω!
(welches
26
ein wenig
größer
seyn könnte) entsteht vermuthlich durch den ungleichen
27
Raum des typographischen Herkommens in Deutschland, welches mir gleich
28
auffiel, weil ein natürliches Auge leichter die Hälfte eines gantzen als ungleich
29
getheilten Raums bemerkt u. findt.
30
Wegen der Zahlen wünschte ich beynahe kleinere u etwas in die Höhe
31
gerückte; weil die Parenthese ein gleichförmiges Zeichen hat als S. 5. Z. 1.
32
Wir sagen hier zu Lande Bude und
Bu
h
dchen
, meines Erachtens richtiger,
33
weil der
Vocalis
nicht im
plur.
geändert wird so ist auch keine Veränderung
34
im
Diminutiuo
nöthig.
35
Die Häkchen u
„“
können füglich S. 6 bey
so weit
so weit
und S. 8
bey
36
so nahe
,
so nahe
weg bleiben.
37
S. 6 halt ich mich an des
Cellarii
Orthographie und schreibe
u
in der
S. 344
Mitte und
v
nur zu Anfang; also
ouo
. Das ausgelaßene etwa auf derselben
2
Seite kann auch ausgelaßen
werden
3
S. 8 fehlt das e im Wort
Opf
e
rer
, und lin.
penultima deleatur comma
4
hinter Meisterstücks und
ponatur
nach Menschenliebe,
5
Mehr bin ich mit meinen krittelnden Augen nicht im stande auszuspähen.
6
Noch
eins!
In der Note 2.
Ισα
λεγειν
sollte größer kommen, wenn welche da
7
sind
– 3.
kann bey
vtens punctum
seyn und sagt
deleatur.
8
Noch eins Der Vers des Horatz
Incitat
muß zu Anfang der obern Striche
9
gerückt werden, weil die vorige Zeile ein bloßes
hemistichon
ist.
10
Abermal eins
Not
6.
Top.
§ 4. und noch eins S. 6. Das erste
Ihm
so
11
groß, wie möglich, auch ein
punctum
bey Kundbaren vor den Strichen.
12
Kraus erwarte ich Nachmittags, und denke noch mit dieser Post
13
zurückzusenden. Für die Zukunft sind
Sie
so gütig lieber 2 beyzulegen, damit ich
14
eins zurück behalten kann. Vor der Hand ersetzt die Abschrift –
15
Ich bin die beyden abgeschriebenen letzten Bogen mit wahrem Schauder
16
und Schrecken durchgegangen, und begreife nicht, wie ich verblendet habe
17
seyn können Ihnen solches rohe, unschlachtige Gewäsch zu überschicken, das
18
ein wahrer We
s
chselbalg ist.
19
Kraus findt Typen und alles gut; al
l
so bleibt es, wie es ist. Wir haben
20
wohl beyde gelacht. Mir hat die Nase aber geschwitzt, als wenn ich
21
Sauerbraten eße; aber das Herz hat mir beynahe geblutet. Zeigen Sie es um aller
22
Welt Niemanden. Ich will mich zu beruhigen suchen. Aber ich verzage an
23
allem, was ich schreibe und geschrieben habe, beynahe bis zur Verzweifelung.
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Anmerkung von ZH: Dieser Brief bildet möglicherweise mit HKB 953 eine Einheit.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 133–137.
ZH VI 341–344, Nr. 951.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
341/27 |
guten ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: gutem |
|
342/15 –17
|
Bey […] gehe!] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
342/25 –32
|
Sie […] Wahre.] |
Die Passage ist in der Handschrift von Jacobi am Rand markiert. |
|
342/31 –32
|
aber […] Wahre.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen; daneben von Jacobi notiert: (Hippel) |
|
343/32 |
Bu h dchen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Budchen |
|
343/35 |
bey ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bei |
|
343/35 |
„“ ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: » |
|
344/2 |
werden ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: werden. |
|
344/3 |
Opf e rer ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Opferer |
|
344/6 |
eins! ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: eins. |
|
344/6 |
Ισα ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ίσα |
|
344/7 |
– 3. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: 3. |
|
344/10 |
Not |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Not . |