968
394/30
den 22 May 86
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Mein Herzenslieber Ariel Jonathan! Mittwochs wurde ich erschreckt und
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erfreut. Ich konnte den 17 kaum erwarten, daß ich zu F. hinlief weil ich in
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8 Tagen nichts erhalten hatte. Sein
Compagnon
wollte mich abtrösten, aber
S. 395
ich rührte mich nicht, sondern hielte ein
en
Monolog:
ob Du krank oder schon
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nach London abgereiset seyn müste. Der gute Mann hielt sich an die letzte
3
Hälfte des
Dilemma,
an die ich gar nicht glauben konnte und ihm
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widersprechen muste. Durch meinen Widerspruch besann er sich, daß der neue
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Lehrbursch noch nicht auf der Post gewesen war; und ich schöpfte Luft und
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Muth, lief unterdeßen bey Deinem Namensvetter, der ausgeritten war,
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kehrte also flugs wider zurück, fand den C. Rath selbst, und half seinem
8
Compagnon
in seinen Entschuldigungen weil ihm ein Jude den Kopf warm
9
gemacht hatte. Und endlich kam der Brief an, den ich eher erkannte als die
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beyden Herren, die wider zur
Negative
neigten gegen meine
positive
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Ahndungen. Nach meinem
Calculo
muste das Pack mit der fahrenden Post
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Freytags den 19 eintreffen, und es kam. Mit
den
zwey Exempl. lief ich
13
selbst zu Hippel für ihn
u
Scheffner – Hill meinem dienstbaren Geist gab
14
ich auch ein Exempl. des Buchs u Kupfers mit für den Namensvetter.
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Ich war eben im Begriffe
Crispus
das seinige abzugeben, wie mich ein
16
Secretaire
der
Direction
zurückrief die auch eben ein Schreiben wegen
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meiner und zwey anderer Officianten gl. Gesuchs erhalten. Es war vom 8 d.
18
dati
rt
Le Garde-magazin h. de votre ville nous ayant fait la meme
19
Sollicitation pour prendre les bains pendant un mois, mais ne nous
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ayant pas determiné l’endroit où il vouloit les prendre, vous le lui
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demanderez et en nous faisant part Vous nous manderez en meme tems,
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si sa santé est delabrée, comme il le dit.
Darauf hat der
Dir.
mir
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versprochen heute zu antworten, und zwar auf die günstigste und
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vortheilhafteste Art.
Crispus
versprach auch mit dieser Post an Biester zu schreiben,
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macht sich aber Scrupel wegen seines Aufenthalts während des meinigen,
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und ob sein Schwabe im stande seyn würde ihn zu beherbergen. Ich werde
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deswegen an unsern Alcibiades auch schreiben – im Fall mein lieber Ariel
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abwesend seyn sollte.
Crispus
und mein Sohn brauchen noch weniger wie
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ich – Brahl hat auch eins bekommen, weil er mit dem ersten bedacht ist.
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Unser Buchladen ist auch schon versorgt, und die Judenschaft, von der mich
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einer vorgestern besuchte, hat unmittelbar aus Berl. erhalten. Das letzte
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Exemplar, das ich anfängl. Reichards Schwager, dem
Secret. Dorow
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zugedacht hatte, liegt hier für meines Mich. Freund
Nicolovius
aufgehoben,
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der verreist ist, und dem ich eine große Freude damit machen werde. Ich danke
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also für mich u meine Freunde, von denen ich
nur Hippel u Kraus
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gesehen
, die mit dem Autor und seinem Werk vollkommen zufrieden
und
37
hierinn
einerley Sinns sind, sonsten aber nicht
.
Crispus
kam voller
S. 396
Freuden gestern zu mir mit der guten Nachricht, daß er endlich mit seiner
2
Deduction
fertig geworden gegen die Elbinger. Wir haben so viel Anmerkungen
3
über unsere homogene u heterogene Autorschaft gemacht, und ich habe so
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viel Gelegenheit gehabt über die meinige nachzudenken u zu beobachten, daß
5
sich darüber ein neues Buch schreiben ließe. Er ist so ein
Purist
in der
6
Sprache, als Kant in der Vernunft, und ich bin ein
Antipod
von beyden aus
7
gantz ähnlichen
Principes.
Ich hatte mir vorgenommen gestern den gantzen
8
Tag zu Hause zu bleiben. Jacobi ließ mir des Morgens die Nachricht
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melden, daß Lavater nach Bremen käme. Darüber verlor ich die
Tramontane
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und gieng nach einem langen Kampf zu Mittag bey ihm; weil ich glaubte
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ein wenig Bewegung unentbehrl. nöthig zu haben; lief also gleich nach der
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Mahlzeit ohne
Caffe
mit Hill nach Hause. Ich bin diesen Morgen – und dies
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begegnet mir seit einigen Tagen zum dritten mal, – mit Stichen in der linken
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Schulter aufgewacht, die mich beynahe Zeter! schreyen machen, weil sie mir
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so empfindlich sind, als wenn ich auf einem Speer stecke. Ich gerathe in einen
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Schweiß, den ich beßer als das erste mal abgewartet habe, und befinde mich
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drauf wohl nach
causam remotam,
die in Blähungen besteht. Daß mir das
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unterwegs auf dem Postwagen begegnen möchte oder auf der Straße, würde
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schrecklich für mich seyn, weil ich vor Ohnmacht nicht sicher wäre. – Ich habe
20
fürchterlich gearbeitet aus einem Labyrinth herauszukommen, und dachte mit
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voriger und dieser Post schon mit der
indigesta mole
fertig zu seyn, aber
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es ist ein
Chaos,
das ich noch nicht ins reine bringen kann über den Titel
23
Jerusalem
; in dem ich den ganzen Geist des Buchs u Verfaßers und
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seiner verpesteten Freundin Berlin aufdecken will, Lavater gegen den
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welschen Plutarch retten und meine Wonsen, die ich in Deinem Buche
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empfangen, verklären will. Erschrickst du nicht lieber Ariel Jonathan für ein solches
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Alpengebürge
bey
meinem schwindlichen Kopf. Wenn ich damit zu Stande
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komme: so will ich
Punctum
machen, mich ausruhen, und opfern oder reisen.
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Wird der Druck so weit fertig: so soll mir die
andere Hälfte
desto
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leichter werden, zu welcher ich die Resultate unumgängl. nöthig habe, und ohne
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sie an nichts eher denken will. Was ins reine ist, hoff ich beyzulegen – und
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ich habe mein
Ideal
per approximationem
wenigstens so gut ich
kann
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und
will
ziemlich erreicht, und warte nun auf das Urtheil des
Triumvirats.
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Meine Autorschaft hat sich mit
Nemo vel Duo
angefangen und soll sich in
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ein
Omne Trinum perfectum
endigen, und dem
Nemo
das Urtheil über
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mein
Exegi
anheimstellen. Der ins Verborgene sieht mag mein
Brabeuta
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seyn; denn bitter sauer ist es mir geworden und die
Species ludentis
fast zur
S. 397
Tortur u Folter, auf die ich meinen Kopf nicht noch einmal spannen werde.
2
Ainsi soit-il!
3
Der vor Freuden unruhige Freytag u 19 d. schloß sich mit dem
Universal
4
Catalogo,
der immer eine Art von Schmause für mich ist. Die
Resultate
5
sind mir entwischt, aber Michael hat selbige angekündigt gefunden. Ich
6
erwarte sie als einen Spatregen für mich, Dein kleines Buch war der
7
Frühregen für meine Saat. Was Recht ist, muß Recht bleiben; also danke ich für
8
die
Correctur
des Büdchen. Ich bin in einigen Fällen ein
Praetor,
aber
9
übrigens ein noch größerer Mückenseiher als der politische Pharisäer
Crispus.
10
Es beruhte blos auf einem falschen Eindruck unsers Provincialdialects, der
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das beste Ohr umstimmt. Daß die Textschrift größer ist, wäre eben nicht
12
nöthig
gewesen; unterdeßen
überflüßige Dinge
schaden nicht
13
immer, und für meine Natur ist
nimis
leider!
satis.
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Ueber den Einzug meines
Namens Bruders
habe ich mich herzlich gefreuet,
15
und lange darauf gewartet. Gott laße alle Mittel gedeyen zu seiner
16
Beßerung. Gedult ist das
sicherste
u
wirksamste
. Siehe, Kinder sind eine
17
Gabe des Herrn und Leibesfrucht ist ein Geschenk. Das Eigentumsrecht und
18
der
vsus fructus
geht auf Rechnung des Gebers, der für beydes stehen muß
19
und sorgen wird. Selbst auf den schlimmsten Fall muß man von sich u
20
seinen Kindern wie jener Held denken.
Nisi periissem, periissem! Nisi
21
periissent, periissent!
Er ist
Vater
und
Pädagog
κατ’ εξοχην,
deßen
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Methoden und Wege unsern eigennützigen, eingeschränkten und
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selbstsüchtigen Planen und Projecten überlegen sind, und damit wollen wir uns als
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treue Gesellen
συζυγοι γνησιοι
Phil IV.
3 untereinander trösten, Ehre und
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Freude von unsern Kindern erwarten, sie als die Hoffnung und Krone unsers
26
Ruhms
annehmen
ansehen und ertragen im Schweiß unseres Angesichts
27
unter Dornen.
28
Malus pudor!
mit Deiner
albernen Laune
hat es weniger zu sagen,
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als mit meiner zum Schreiben. Es geht mir noch öfterer und stärker und
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ärger, daß ich Anfechtungen gnug drüber habe, wenn mein Kopf stätig
ist,
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sich bäumt u nicht von der Stelle will.
oder ausreist, das mir Hören und
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Sehen vergeht. Aber jetzt lieber Ariel Jonathan! bin ich ungedultig auf
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Resultate
, die vielleicht eher brauche als ich es wißen kann, auf
Visa
und
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reperta,
auf Probebogen in
duplo,
auf
qu’en dit-on?
und
qu’en dira-t-on?
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über Deine publike u
pr
meine
Privat-
Autorschaft. Ich lebe gantz
isoli
rt
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und an meinen fliegenden Brief genagelt, mit dem ich gern so weit wie
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möglich kommen
k
möchte bis auf einen Ruhepunct, wo ich mich nicht länger
S. 398
mit Beschuldigungen und Vorwürfen – sondern beßern Materialien und
2
Personalien beschäftigen kann. Bitte mir Erklärung über S. 94 aus, die ich
3
nicht herauszubringen im stande bin von selbst. Ich eile zu einer neuen
Copia
4
meiner Fortsetzung, weil die gestrige nicht gerathen ist und ich durch
Crispum
5
u noch 2 andere Einsprüche gestört wurde. Des Schutts ist so viel, daß ich
6
keinen Raum zu gehen habe – Sie werden es schwerlich finden und errathen
7
können, wie viel Arbeit mir das Aufräumen gekostet – Nun Gott sey mit
8
Ihnen und Ihrem gantzen lieben Hause, und erfreuen Sie bald mit
9
Resultaten, an die Sie vermuthl. mit Fleiß nicht gedacht haben in Ihrem letzten.
10
Crispi
Vermuthung wird mir dadurch zur Gewißheit. Sie haben sich also
11
durch Ihr muthwilliges Stillschweigen selbst verrathen. Doch alles gut in
12
M. Hat
Claudius
schon den ersten Bogen erhalten? Nächstens so Gott will,
13
mehr von
Ihrem
14
alten treuen Georg Mephiboseth.
15
Die Stelle S. 3. lautet so: Durch ein solches Sehrohr historischer und
16
prophetischer Vorerkenntnis wäre dem Beobachtungsgeiste ein
17
exemplarischer
Schatten u Grundriß
aus einem
C
dichten Cederhayne zum
18
Materiale
zur
eines Werk – – Vor einem solchen Werk wäre der Name
19
Jerusalem alsdann zwischen den beyden Nebensonnen p
20
Wollte Gott daß ich mit Hiob sagen könnte: Mein Bogen beßert sich in
21
meiner Hand – oder meine Freunde mit dem Speisemeister zu Cana in
22
Galiläa: Du hast den guten Wein zuletzt behalten. Ich wünschte nur diese Stelle
23
glückl. herauszubringen durch Gedult und Glück.
24
Für den Schatt
en-
und Grundriß möchte
Crispus
lieber Ideal. Anstatt
25
entgegen gekommen erschienen
seyn
26
Durch ein solches Sehrohr historischer u prophetische
s
r Vorerkenntnis
27
würde dem Beobachtungsgeiste, ein exemplarisches
28
Ide
l
al
aus einem Cederhayn
entgegen gelacht
haben
zum Materiale eines Werks
29
Schatten u Grundriß
–
geeilt
–
30
Schema
–
gewinkt
–
Non liquet
31
erschienen seyn
32
entspann aus seiner mehr erworbenen als geerbten Ideenkunkel, vermittelst
33
willkührlicher
Fiction
u
Manipulation
ein funkelneues Jer.
Vox haerit in
34
faucibus et
p
calamus in vacuo
– Ich kann nicht mehr –
Ergo vale et
35
faue TVO. G.
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 235–238.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 331–336.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 214–217.
ZH VI 394–398, Nr. 968.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
395/13 |
u ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: und |
|
395/36 –37
|
und hierinn […] nicht] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
396/9 |
Tramontane |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Tramontane, |
|
396/27 |
bey ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bei |
|
397/3 –4
|
Universal Catalogo, |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Universal- |
|
397/14 |
Namens Bruders ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: NamensBruders |
|
397/30 |
ist, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ist, |
|
397/31 |
sich […] will.] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: sich bäumt u nicht von der Stelle will |
|
398/25 |
seyn ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: seyn. |
|
398/28 –31
|
Idelal […] seyn] |
Da die unterstrichenen Worte als mögliche Ersetzungen jeweils einen räumlichen Bezug auf die Formulierungen über ihnen haben, wurde der Zeilenfall der Handschrift angepasst. |
|
398/28 |
entgegen gelacht ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: entgegengelacht |