972
410/26
Kgsb den 28 May
Exaud
86.

27
Mein Herzens lieber Gevatter, Landsmann und Freund,

28
Ihren lieben erwünschten Brief von 1 May, da ich sehr vergnügt war

29
über Nachrichten aus
Batauia
von meinem tollen Hogendorp und mich
sub

30
rosa
mit unserm feinen
Prof. Mor
u
Polit.
Namens
Crispus
in einem rothen

31
Wein, den er mir vor einem halben
Jahr
verehrt hatte bis zum Taumel

32
gelabt hatte, erhielte ich an unserm jährigen Bußtage, der den vierteljährigen

33
ersetzt, den 10 d. und gestern brachte mir mein junger Freund
Nicolovius

34
Einl. von Ihrer würdigen
H
Schwester, die munterer und gesünder seyn

S. 411
soll, wie ich mir vorgestellt. Ich muß also antworten, um Einl. zu

2
befördern.

3
Hartknoch hat den 27
pr.
meine
Supplique
um Urlaub mitgenommen.

4
Den 4 May
avisi
rte Hartknoch seine Frau daß er den Brief bestens bestellt,

5
dies erfuhr ich den 13. Den 19 erhielt die
Direction
eine Antwort unter 8, wo

6
sie statt 4 nur
1
Monath gelesen hatte, wißen wollte, ob ich wirkl. so

7
krank wäre, wie ich
vorgebe
, und wohin ich meine Zuflucht nehmen wollte.

8
Unter demselben d. des 19 antwortete die
Direction
zu meinem Vortheil,

9
und nun ist alles zum Ja oder Nein reif. Ob ich Sie
zuerst
s
oder

10
zuletzt
sehen werde weiß ich nicht. Das letzte hätte Vortheile für uns beyde,

11
und ich werde mich vollkommen nach Ihnen richten können, so bald ich nur

12
erst das Ja! habe. Auf der Rückreise hoffe ich
gelehrter
klüger, gesetzter auch

13
vielleicht ein wenig artiger
zu
seyn, als auf der Hinreise, und werde mehr

14
zu erzählen wißen. Der erste soll also dadurch nichts verlieren wenn er auch

15
der letzte würde, und in der Freundschaft giebt es keinen Rangstreit.

16
Hippel ist diese Woche nach Dähnhofstädt gewesen den dortigen Garten

17
zu sehen und sein Elysium auf den Huben darnach schaffen zu können. Er

18
nahm seinen
Pupillen
Raphael mit. Der bat meinen Michael um ein Buch,

19
und der wuste ihm nichts beßers zu geben als Ihre zerstreuten Blätter, die

20
er ohne Ruhm zu melden fleißig gelesen hat. Heute bringt mir
Raphael
von

21
Hippel, daß er sich an diesem Buche
unterwegens
geweidet,
u
jener

22
beschwert sich, daß er darüber selbst daßelbe hat entbehren müßen zum

23
Viatico.
Ich freue mich also auf den zweiten Theil, den mir Hartknoch nebst den

24
Resultaten
mitbringen wird.
Crispus
vermuthet Sie zum Verfaßer; und

25
Jacobi, der an Postgeld verschwendt, läßt mich mit dem Buch im Stich und

26
ist eben so zurückhaltend mit dem Verfaßer. Etwas und viel wahrscheinl. ist

27
es, daß Sie es sind, da Sie über die
triumviros
haben einmal was im Schilde

28
geführt. Aber Ihr Abc Buch

29
Ich freue mich herzlich, daß Ihre liebe Frau, und meine

30
verehrungswürdige Freundin u Gevatterin sich Gottlob! erholt hatte. Gott gebe gute

31
Fortsetzung, und Muth zum
Abstine
und
Sustine.
Mit meiner
Diät
und

32
Kämpfschen Curart ist alles vorbey. Ich lebe wie ein
Epikuräer
, eße mit einem

33
Geschmack der sich nicht beschreiben noch zeichnen läßt. Ich glaube, daß meine

34
Sechswochen mich so angegriffen und eine solche
Revolution
in meinen

35
Eingeweiden wie in meinem Gehirn gewirkt haben. Morgen oder vielmehr

36
übermorgen früh geht schon die fünfte Fortsetzung ab, und ich hoffe noch diese

37
Woche eine
VI.
Wenn ich bis an die Morgenstunden u den Atheismum

S. 412
komme: so will ich eine Pause machen und wie jener Bauerjunge sagte, mich

2
ein wenig verpusten oder verschnaufen. Es wird wohl die gröste Hälfte

3
alsdann überstanden seyn; und wenn ich diesen Schlucken überstanden habe,

4
zeitlebens dran denken, und mir es nicht mehr gelüsten laßen. Schlägt dieser

5
Wurf ein; so hab ich gnug Arbeit übrig die vorigen Brocken zu sammeln,

6
daß nichts umkomme; denn im Grunde ist doch
alles,
was der Mensch thut

7
u thun kann, Gottes Gabe, das Kleinste wie das Gröste.

8
Meinem Ariel zu Pemp. hab ich schon eingebunden, alles noch feucht aus

9
der Preße zu übermachen. Alcibiades freut sich auf einen kleinen Gast, der

10
mein Vorläufer sein wird. Vielleicht wird seine Marianne an Einem Tage

11
mit mir entbunden.

12
Nach unserm jetzigen Plan
in petto
wird
Crispus
unser Reisegefährte.

13
Morgen geht
seyn
Brief an Biester ab um Urlaub
bey
dem Minister

14
auszuwirken. Ich mache mir gleich das Vertrauen
Excellentissimi Hominis
zu

15
Nutz, ihm die Sorge für das Unterbringen unsers politischen Gefährten zu

16
überlaßen. Sie werden sich einander
in theoria et praxi
versuchen können.

17
Der kleine
φφ
us ambulans
wird sich seines stammelnden Bruders Michael

18
annehmen; und wir alte beyde wollen mit Mutter Caroline – wie heist doch

19
schon Ihr
grie
chi
scher
Name? – ich lief nach dem Buche u es ist nicht zu

20
Hause – über Küchen- u Keller Geheimniße philosophiren und raisonniren

21
nach Herzens Lust. – –


22
den 30 –

23
Ich wurde vorgestern unterbrochen, und darauf wandelte mir eine

24
Schäferstunde an, die ich mir gern zu Nutz machen wollte. Die Fünfte Fortsetzung ist

25
heute an J. abgegangen und es geht mir nach dem welschen Sprichwort:

26
L’appetit vient en mangeant.
Wenn ich gleich mein Ideal nicht erreiche; so

27
hoffe ich doch demselben ziemlich nahe zu kommen. Wie sauer mir die beyden

28
ersten Bogen geworden sind, kann ich Ihnen, liebster H. nicht beschreiben.

29
Ich habe mehr als einmal
an
Leben und meinem Kopf und meinen

30
Eingeweiden verzweifeln wollen; denn die letzten wollten immer mitreden, daß der

31
erste nicht von der Stelle kommen konnte. Ich habe mir durch Fasten in Engl.

32
schon einmal das Leben gerettet, wollte auch
schon zur
Kämpfschen
K
Cur
meine

33
Zuflucht nehmen; aus seinem schönen Buch hab ich mein Uebel kennen

34
gelernt. Der seel. Kanter sprach mir immer davon, der gantz davon

35
eingenommen war und gnung an
Lavements
verschwendet hatte. Wie ich den Hofrath

36
Metzger um einem Zeugnis wegen meiner Gesundheit besuchte; so bat ich ihn

37
um das Buch, aus deßen Bande ich ersahe, daß es in
Trutenau
gebunden

S. 413
war, wo er einen eigenen
Buchbinder
für seine Bibliothek unterhielt. In

2
des Stadt u Land
Physici Testimonio
waren auch
Infarctus
angegeben,

3
deren Namen ich nicht einmal recht verstand; aber im Kämpf wurde mir

4
alles klar. Zehn Tage schränkte ich mich auf Haberschleim u
Caffé
u

5
Butterbrodt ein. Nachdem ich einmal aufgehört, war es mir zu schwer, wider

6
herein zu kommen. Ich habe jetzt
Diät
und
Lavements
aufgegeben, eße mit dem

7
grösten
Appetit,
und befinde mich erträglich. Unterdeßen stehn mir doch

8
bisweilen die Haare zu Berge, wenn ich an meine Reise denke. Meine

9
verwöhnte sitzende, träge Lebensart ist mir zur andern Natur geworden, und

10
ich besorge alles Uebel aufzurühren, was jetzt feste sitzt und verstockt ist,

11
unterwegs aber in Gährung kommen möchte. Erhalte ich das Ja,
und
so

12
sehe ich es als einen Beruf an, zu dem ich auch Kräfte erhalten werde. Aber

13
sinnlos und betäubt werde ich gewiß seyn, und nicht bey mir selbst daheim

14
gehören. Sie werden mich aber auch als einen
Cretinen
aufnehmen und

15
Gedult mit meinen Schwachheiten haben. Die Aussicht zum Ziel und unsers

16
Mentors Gesellschaft nebst meinem Michael wird auch vielleicht

17
Schlagwaßer für meine Ohnmacht seyn; wenn es nicht beyden eben so arg geht. Ob

18
mein Junge das Fahren vertragen kann, weiß ich nicht einmal. Er ist schon

19
auf dem Haff Seekrank gewesen; und ich bin nicht mehr als ein einziges mal

20
mit meinen Kindern in der Kutsche gefahren, wo
Lisette Reinette
keine

21
Meile aushalten konnte. Mag Michael mit seinem Mentor laufen. In

22
meinen Lenden ist das Qvecksilber zu Bley worden, daß ich kaum einen Gang

23
in
der
Stadt bestreiten kann, ohne lahm zu werden. Alle Säfte und

24
Lebensgeister müßen inwendig verkleistert seyn, unnatürl. Schärfe haben – und der

25
innere Mensch ist
ad modum
der Maschine und seines
Organi;
daß ich

26
Pferdearbeit nöthig habe meine Ideen zu
dilui
ren und
potable
zu machen.

27
Crispus
ist mein
Cynthius,
und wir zupfen uns einander weidlich die Ohren.

28
Er mit seiner flachen Hand, ich mit der geballten Faust. Wir verstehen uns

29
aber,
de
je länger, desto beßer einander, und bisweilen verwechseln wir

30
unsere Attribute, daß er hartmäulich und ich das weichmäulige Pferd bin.

31
Die Selbstkritik meiner Arbeit ist vielleicht mehr werth, als die Arbeit selbst,

32
nur Schade, daß jene weder geschrieben noch gedruckt werden kan, wie sich

33
kein Zucker mit Zucker eßen läßt.

34
Entziehen Sie mir Ihre Erinnerungen nicht, wenn Sie selbige nöthig

35
finden. Der Beyfall kommt Zeit genug; aber
post factum
komt der gute

36
Rath zu spät.


S. 414
den 31 May

2
Ich habe mich gestern den ganzen Nachmittag umgetrieben, die Baroneße,

3
welche ich seit langer Zeit nicht gesehen, besucht, meine Tochter auf

4
Pfingsten los gebeten, und Kr. Deutsch bey Hippel zum ersten u letzten mal

5
gesehen, der sn Sohn auch während der Ferien abholt. Auf Hartknoch freu ich

6
mich, und fürchte mich ihn zu sehen. Der arme Mann hat ein Hauskreutz,

7
das man sich gar nicht vorstellen kann, an seiner Tochter Albertine, die ich

8
bey der Baroneße anbringen wollte, aus Freundschaft für
Vater
und

9
Kind
und
Me Courtan,
die auch ein gut Werk gern befördern hilft, und schon

10
seit Jahren mit mir
in petto
daran gearbeitet. Die Mutter u die ganze

11
Familie war uns entgegen, und hatten eine andere
Pension
bey einer Tobacks

12
Directorin Me le Noble,
die eine Anverwandtin ist, für das Kind im Sinn.

13
Hartknoch folgte unserm Rath, stimmt seine Frau um, wie wir die

14
Baroneße, er bringt sie mit und beyde Eltern sind entzückt, wie sie unsere

15
Beaumont
und ihre Pflanz-Schule oder kleine Akademie zu sehen bekommen. Das

16
Kind wird aufgenommen, den Tag da Hartkn. abreiste. Den fünften Tag

17
drauf, muß die unglückl.
Pflegmutter
den kleinen eingefleischten Satan

18
wider zurückliefern, und
Me le Noble
erbarmt sich, selbige aufzunehmen.

19
Sie können sich einen solchen Wechselbalg weder denken noch vorstellen, und

20
Hartknoch hat die Einbildung sie als einen köstl. Edelstein zu empfehlen,

21
der blos nöthig hatte geschliffen zu werden um der herrlichste
Brillant
zu

22
werden. Sie können sich nicht vorstellen, wie nahe mir die Sache an das Herz

23
gegangen sämtl.
Interessenten
wegen, und was
für
vor unangenehme

24
Aufschlüße über
manches
dieser Vorfall gegeben, worinn ich mich geirrt.

25
Die Familie hat Recht behalten, daß es auch hier heißen kann:
Vox populi,

26
vox Dei.
Die meisten, aber nicht die klügsten, haben die Schande dieses

27
Kindes nicht öffentl. machen wollen, und daher selbige im Hause einer Freundin

28
zu verheelen gesucht, bey der von keiner Erziehung sondern einem bloßen

29
Schlendrian, das den Namen führt, die Rede ist. Es ist
erst
an dem Kinde

30
an keine Erziehung, menschl. Weise zu denken, und alles was man noch thun

31
kann, ist ein wenig Schminke, um das Uebel zu bedecken und weniger auffallend

32
zu machen, wenigstens den zu ihrem Unglück zu klugen u blinden Eltern zu

33
entziehen. Das Kind hat wirkl. vortrefliche Anlagen des Kopfs gehabt, die aber

34
alle zum Bösen, und Schein des Guten verstimmt u versäumt worden, daß

35
der scharfe Eßig in keinen Wein wider verwandelt werden kann. Des Vaters

36
harter Eigensinn und der Mutter weichliche Schwäche sind der Grund ihrer

37
Natur, und was für ein
Amalgama
aus solcher Mischung entstanden, ist

S. 415
ein trauriges u fürchterl.
Portentum,
das man ohne Gram und Abscheu

2
nicht ansehen kann. Er hat Religion und
φφ
ie an ihr gemisbraucht, und sie

3
die
Frivolité
ihres Geschlechts u Familie.
Hinc illae lacrumae!
Gott wolle

4
uns nicht so strafen, und dem Unglück abhelfen, das von Ihm komt und

5
durch
Ihn
allein gehoben werden kann, wie an jenen Blinden im
Evangelio,

6
daß seine Werke offenbar werden
.

7
Die
Kinder
Finger sind mir so verfroren, daß ich nicht schreiben kann.

8
So kalt schließt sich der May. Ich schreibe bald, oder komme selbst. Gott sey

9
mit Ihnen und den lieben Ihrigen.
Michael
ist heute
herbo
risiren mit

10
dem würdigen
D.
Hagen, bey dem er die Botanik angefangen. Hill ist auch

11
in der Gesellschaft. Ich umarme meinen kleinen
φφ
e
ambulant.
Eltern und

12
Kinder Gottes Liebe empfohlen vom alten Mann auf dem Berge. Ich

13
umarme Sie u Ihre Muse. Adieu.


14
Adresse:

15
Des / HErrn GeneralSuperintendenten Herder / Hochwürden / zu /

16
Weimar
. / fr.
Halle
.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 298–299.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 315–317.

ZH VI 410–415, Nr. 972.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
410/26
86.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
86
410/31
Jahr
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Jahre
411/6
1
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
einen
411/7
vorgebe
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
vorgäbe
411/12
gelehrter
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gelehrter,
411/21
unterwegens
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
unterwegens
411/21
u
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
411/28
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
   
411/32
Epikuräer
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Epicuräer
412/6
alles,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
alles
412/13
bey
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
bei
412/13
seyn
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
sein
412/19
grie
chi
scher
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
griechischer
412/29
an
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
am
412/32
schon zur
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
zur
412/32
K
Cur
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
?
Cur
413/1
Buchbinder
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Buch
?
binder
413/23
der
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
die
414/17
Pflegmutter
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Pflegemutter
414/29
erst
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
erste
415/5
Ihn
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ihn
415/9
Michael
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
?
Michael