976
418/18
Kgsb. den 7 Jun 86.
19
Ohngeachtet ich mich gantz verseßen an einem geschriebnen Plunder, den
20
mir jemand gestern aufdrunge, muß ich doch noch wenigstens heute, mein
21
Herzenslieber J.J. den Anfang machen, wenn ich auch nichts mehr als den
22
Empfang Deines erwünschten Briefes melden kann, und meine Freude
23
darüber, weil ich voller hypochondrischer Unruhe wegen des
Vacui
einer ganzen
24
Woche war, und für Deine Gesundheit oder verdrüßl. Vorfälle besorgt. Nun
25
Gottlob! daß meine Furcht eitel gewesen ist. Noch erwarte ich mit Ungedult
26
auf gute Nachrichten aus Münster diesen Montag, und ich vermuthete Dich
27
auf die dringende Einladung dort. Die Lage eines Vaters ist immer in
28
solchen Umständen kritisch, und jedes Warten für mich peinlich, geschweige ein
29
solches, wo es auf so vieles ankommt – Nun Gott will helfen und die Angst
30
in Freude verwandeln, in vollkommene Freude – Leibesschmerzen zerstreuen
31
vielleicht die innerl. Unruhe. Ich glaube, daß ein Vater bisweilen mehr
32
leidet, als die kreißende Mutter; wie Einbildung Empfindung übertrifft, u
33
letztere zu übertreiben vermag –
S. 419
Ein klein Misverständnis schadt der Freundschaft nicht. Man lernt sich
2
dadurch beßer schätzen oder kennen, wird gründlicher oder vorsichtiger u
3
klüger.
4
Noch keine
Resultate
sind hier, und eben schickte
Me Hartknoch
zu mir
5
u bat sich Nachricht von ihrem Mann aus. Die rechte Antwort fiel mir erst
6
ein, wie der Bote weg war. Ich versteh das Opfer der Verleugnung nicht
7
recht, was ich bewundern soll – und habe eine ähnl. Probe wo ich nicht irre,
8
heute an Deinem Briefe abgelegt. Mich gnug auf den heutigen Posttag
9
gefreut, und auf den Fall, daß wider nichts seyn sollte vorbereitet. Hatte
10
dennoch nicht das Herz selbst zu gehen, sondern trieb meinen Joh. Michael zum
11
Kaufmann; weil ich mir nicht zutraute von meinen Gebärden Meister zu seyn.
12
Wie er mit dem Briefe gelaufen kam, steckte ich ihn eben so in die Tasche, als
13
wenn er schlechterdings nicht hätte ausbleiben können, sondern unfehlbar
14
eintreffen müßen. Aber 2 Nebenideen setzten mich in diese grosmüthige
15
Gleichgiltigkeit. Ich wollte 1.) um recht ruhig zu lesen eine
Kl
Amtskleinigkeit
16
abmachen die mir höchst unangenehm war und mit reinem Kopf lesen 2.)
17
kam er mir zu klein vor, und ich hatte mir ihn dicker eingebildet.
18
Von Berlin noch kein Laut – weder für mich noch
Crispum,
den die kalte
19
Witterung angreift, daß er elend aussieht. Vielleicht bringt Hartknoch mit
20
den
Resultaten
auch Nachricht mit. Ich scheue mich aber eben so sehr für
21
Erklärungen über seine Albertine, als ich mich freue auf das, was er mir
22
mitbringen soll. Ich thue alles was ich kann auf ein Nein! gefaßt zu seyn und
23
den besten Gebrauch davon zu machen, wenn es Gottes Wille ist, daß ich noch
24
ein Jahr warten soll
te
.
25
den 8.
26
Mit meiner Gesundheit gieng es vorige Woche ziemlich; aber sie hat
27
seitdem wider gelitten. Ich habe mich auf die Pfingsten gefreut, und meinte recht
28
weit in denselbigen zu kommen mit meiner Arbeit, die jetzt gantz den
29
Krebsgang geht. Weder ich noch Crispus sind recht mit der letzten Fortsetzung
30
zufrieden, ohne daß wir unserm Urtheil recht trauen können, noch sagen,
31
woran es eigentlich liegt. Von der wünschte ich wohl vorzügl. eine Abschrift, um
32
selbige anzusehen in einem andern Lichte. Aus meinen Concepten ist unmögl.
33
klug zu werden, noch sich darauf zu verlaßen. Bey den vorigen kann es bey
34
dem Probebogen bleiben. Ich ändere, so oft ich abschreibe, und eine
35
Hauptstelle, wie ich mir wenigstens einbilde, ist verhudelt worden. Meine Absicht
36
war durchaus bis so weit fertig zu werden, wo ich die Resultate
nothig
haben
37
würde. Es ist aus allem Tichten u Trachten nichts geworden und mein Kopf
S. 420
ist gestrandet. Meine Freundin
Courtan
kam gantz elend in der Kutsche
2
vorige Woche zu mir gefahren mir ihre Noth zu klagen. Ich lief zu meinem
3
Nachbar Miltz, den zu mir zu hohlen, und sie hat am ersten Pfingsttage die
4
Kämpfsche Cur angefangen. Gott gebe, daß selbige anschlagen möge, wozu
5
ich viel Hofnung habe. Ihr Beyspiel wird mir und vielen andern heilsam seyn
6
zur Nachahmung. Ich habe
Marcard
auch mit Vergnügen durchgelaufen,
7
und so unzufrieden ich gegen das öffentl. Urtheil mit seinem witzigen
8
Hirtenbriefe war, beurtheil ich ihn jetzt beßer, da er auch die Hypochondrie aus
9
Erfahrung kennt. Auf Lavaters Brief freue ich mich. Daß Du aber gar nicht
10
an seine Versetzung nach Bremen denkst, befremdet mich, ich weiß nicht
11
warum?
12
Meine Säfte si
ch
nd versäuert, corrosiv, meine Gefäße verschleimt,
13
verstarrt, gelähmt. Ich bin meiner Gedanken, meiner Empfindungen meiner
14
Organe und besonders meiner Zunge nicht mächtig. Was andere reitzt und
15
aufmuntert, unterdrückt mich und betäubt mich. Die Wirkungen der Reise auf
16
mein verdorbenes System und deßen Oekonomie kann ich gar nicht absehen.
17
Ein gekünstelter Greis, der sich eben so elend zu klügeln als glücklich zu
18
träumen im stande ist. Von einem so elenden Geschöpfe erwarte doch nichts,
19
lieber Fritz Jonathan! als ein trauriges
Ecce homo!
Ich bin mir selbst eckel,
20
und sehe alle Liebkosungen für unnatürliche Erscheinungen an, die mich irre
21
machen und ebenso auf mich wirken, wie Licht auf ein krankes Auge. Es ist
22
weder artig noch recht schicklich, was ich Dir antworte; aber in dem
23
Augenblicke, da ich es schreibe, wahr und aufrichtig. Du und Dein armer Georg
24
sind die ersten Gegenstände meiner Neugierde und meiner geheimsten
25
Neigungen. Vielleicht bist Du im stande durch die
gute Gesellschaft
in
26
Deinem Hause auf meinen Michael zu wirken, dem Du zu viel Ehre anthust,
27
Dich seiner so liebreich zu erinnern. Er scheint das Vertrauen zu mir nicht zu
28
haben, und es geht mir beynahe
eben so
mit ihm. Mein Freund
Crispus
hat
29
Pflege
nöthig; ich mehr, davon abgehalten zu werden von meinem Hange
30
zur Sinnlichkeit und Trägheit.
Crispus
ist
Virtuos
u Dichter und alles was
31
er will. Ich versteh von allem das zur artigen Welt und schönen Natur
32
gehört nicht ein lebendiges Wort und bin zu alt zur Schule. Doch alles, wenn
33
es so weit kommt wird sich von selbst geben und berichtigen laßen. Wir
34
müßen dies alles wie noch
unbekannt
ansehen, und
ignoti nulla cupido.
35
Es thut mir nicht leid, lieber Fritz, Dich ein wenig geärgert zu haben –
36
das macht
Appetit
zum Eßen – nemlich
Asmus
u
Flacius
so nahe
so enge,
37
so enge zusammengestellt zu haben. Konnte es mir auch gantz gleichgiltig
S. 421
seyn, Deine Vorurtheile gegen H. zu lesen. Also erstlich, abgegeben.
2
Zweitens war, vom Urtheil die Rede und nicht vom Herzen oder guten Willen.
3
Flacius
ist allerdings ein guter
beweglicher
Wetterhahn, weder lahm
4
noch schief. Die Unbeständigkeit seines Geschmacks liegt allerdings nicht in
5
ihm sondern seinem Element.
6
Was nennst Du, lieber Jonathan, die
erste Regel der Logik
, gegen
7
die Schütz verstoßen hat. Ich erhalte fast nicht mehr seine lateinsche Zeitung
8
seit Kanters Tode – und meine Logik ist dem
Flacius
ähnlich, ein
lahmer
9
schiefer Wetterhahn. Vergiß mir nicht zu bekennen, was in Deiner Logik die
10
erste
ist. Mir liegt an dieser Antwort recht viel, ich weiß selbst nicht
11
warum? wie mir bisweilen mehr daran gelegen meine Feinde als meine Freunde
12
zu kennen.
13
Das ernsthafte Ding vom Glauben habe ich kaum der Mühe werth
14
gefunden zu lesen. Es läuft auf eine wahre Bilderstürmerey hinaus.
15
Laß Dich an Deiner Reise durch meine blinde
molimina
nicht irre machen.
16
Geh mit Gott, von Ihm allein hängt unsere Zusammenkunft ab, und nicht
17
von unsern Maasreguln, und Cartenhäusern. Will lieber in Deinem Hause
18
wohnen als wünschen Dich zu meinem Gast zu haben, wo alles wüste,
19
verstört, einem
Sterquilinio
ähnlich ist –
curta suppellex,
im eigentl.
20
Verstande, kein halbes Dutzend ganzer Stühle. Ich bin auch in meinem ganzen
21
Leben zu keinem ordentl. Anzuge
de cap a pied
gekommen, habe umsonst
22
bisweilen Versuche gemacht, dies zu erreichen, weiß auch sehr
implicite
nur,
23
was dazu gehört, bin immer mit einem Ideal davon schwanger gegangen,
24
und jetzt überlaße ich es beynahe einem meiner Schwiegersöhne, die mir der
25
Himmel zugedacht hat. Mein Michel scheint gar kein inneres Gefühl davon
26
zu haben, das ungeachtet der Vernachläßigung des äußeren, bey mir nicht
27
stumpf geworden. Ich freue mich in der Stube jedes jungen Menschen, wo
28
es ordentlich aussieht, besonders wo
simplex mundities
da ist, die mir mehr
29
ins Auge fällt als Pracht des Geschmacks. Ich schließe hier, um meine
30
Amtsstube nicht warten zu laßen – Fällt noch heute etwas vor: so ist noch Raum
31
auf der dritten Seite. Wo nicht, so bleibe sie leer! Ich habe viel zu schreiben
32
aber ich will nicht sagt der heil. Johannes mit Tinte u Feder. Mündlich!
33
Mündlich!
στομα προς στομα. Ελπιζω
wo nicht dies laufende, doch das
34
nächste
Jahr. Also glückl. Reise nach London; und laß mich den
Re
a
id
35
bey Dir finden, daß ich im Nothfall etwas lesen, wenn nicht reden noch
36
denken kann.
37
Vormittags lief auf einen
Augenblick
bey
Me
Hartknoch
um die gestern
S. 422
schuldige Antwort zu ergänzen. Ich fieng wohl an, aber glaube doch wider
2
in der Mitte stecken geblieben zu seyn und nicht zu Ende geredt zu haben.
3
Ihre Augen sind noch nicht beßer, und der kleine Sohn bekommt wahrscheinl.
4
die Pocken, weil sie im Hause gewesen sind. Ihren Mann vermuthet sie auf
5
die Woche weil er 2 Frauenzimmer mitzubringen hat. Nimm Dir also viel
6
Zeit auf mein Gutachten der Resultate zu warten. Was es aber mit den
7
letzten 11 Bogen für Bewandnis hat, begreif ich nicht; wie ich überhaupt am
8
Ende Deines Briefes viel nicht verstehe. Warum ich Deinen Berl. Gönnern
9
nicht den
Hume
nennen soll? Hab ich es gethan; so besinne ich mich nicht
10
mehr. Was Du recht mit Deinen Lippen verbeißen sagen willst und mit der
11
General Vorlesung
, auf die Du Dich freust – und mit dem
Trio?
–
12
Ich glaube bey meiner Treue, daß Du wie Heineke sagt, ein wenig
13
hamannisirst, und zur Gesellschaft
vapeurs
bekommst, und mir nach gähnst. Daß es
14
Dir mit meinen Briefen oft kunterbunt gehen mag, und daß es halsbrechende
15
Arbeit für den Menschenverstand u Geschmack ist; sie erst zu buchstabiren
16
und denn Sinn zu finden: daran zweifele ich gar nicht. Da fällt mir eben ein,
17
was ich diesen Morgen dachte: da ich mein künftig
Hotel
in Düßeld. oder P.
18
mir vorstellte; die Welt deßelben in gute und nicht gute Gesellschaft, neml.
19
für mich, eintheilte; die erste meinem Mentor und Michael abtrate, den
20
Wirth
aber u seinem
George
auf mein Loos nahm. Dies war keine
21
Insolentz,
noch
Sottise:
so ähnlich sie auch
vtriusque generis
zu seyn scheint. Ich
22
wünschte mir oder
substitui
rte ohne es zu wißen noch zu wünschen an Dir
23
einen solchen elenden Wirth, wie ich selbst bin, der keinen Menschen
24
einzuladen noch aufzunehmen im stande ist, sondern die Gäste sich gantz selbst
25
überläst. Der ist mir der willkommenste, der ungebeten kommt, der so gut ist
26
sich selbst zu nehmen, und so
galant
mir auch einen guten Bißen, den er selbst
27
nicht mag, vorzulegen. So behandele ich meine Gäste, und so mag ich auch
28
nicht ungern selbst behandelt seyn. Eine zuvorkommende Aufmerksamkeit
29
sättigt mich; ich muß etwas selb
st
zu wählen und zu vermißen übrig haben.
30
Die Aufmerksamkeit anderer zu beobachten greift mich an u kostet mir, mehr
31
als sie ihnen bisweilen kosten mag, die es gewohnt sind. Ich habe mehr Lust
32
aufmerksam zu seyn, wenn es andere nicht sind, als mit ihnen zu wetteifern.
33
Die scharfsinnigen Leute welche mir alles an den Augen ansehen, machen
34
mich mistrauisch und scheu. Ich mag lieber um etwas bitten, und dafür
35
danken; als beydes unterdrückt sehen. Also übe Dich nur fein in Gedanken einen
36
solchen Wirth, wie ich bin, vorzustellen – und alles so verkehrt, wie ich es in
37
meiner
camera obscura
sehe – Der 23 May ist also wirkl. zum Andenken
S. 423
des jüdischen Weltweisen in Berl. gefeyert worden; und wie von mir? Ist
2
das nicht ein eben so unauflöslicher
Contrast?
Wer wird mich nicht für den
3
bittersten niederträchtigsten Feind dieses armen unschuldigen Menschen
4
halten, in deßen Hause ich gespeist, dem ich in meinem keine Höflichkeit habe
5
erzeigen können, deßen Ruhm ich das Ansehen habe zu zerstören?
Resolue
6
mihi hunc Syllogismum
– den ich unter dem Schein der grösten Leidenschaft
7
mit keinem Gefühl als der Menschlichkeit verfolge? Hab ich mich in dem
8
Calculo
nicht geirrt? Sind es schon wirkl.
VI
Fortsetzungen? Ich bleibe
9
diesen Nachmittag zu Hause und wünschte die siebente wenigstens anfangen
10
zu können, in der ich das meiste vorgearbeitet und zubereitet habe, ohne daß
11
ich mit der
Digestion
weiter kommen kann. Gegen die letzte bin ich noch
12
mistrauisch, und ich wünschte selbige zurück mit Erinnerungen. Die übrigen
13
können in Gottes Namen abgesetzt werden. Was Mendelssohn seinen
14
Freunden zudachte, muß ich vielleicht an ihm selbst thun?
Ein Exempel
15
statuiren
.
Prosit!
16
Erhalte ich
Nein
! so ist dies eine
Vocation
zu einem Sturm gegen die
17
welsche H. Den brauch ich den Sommer mich durch die Kämpfsche Ibis zu
18
reinigen und zu arbeiten, daß mir der Kopf raucht, mich an die Philister zu
19
rächen
.
Es geht meiner trächtigen Kuh mit ihrem Kalbe wie dem alten
φφ
en,
20
der auch nicht entbunden werden kann. Vielleicht hängt unser Schicksal von
21
einem Zauber ab, der zu gleicher Zeit gelöset werden wird. Reise in Gottes
22
Namen, und warte nicht auf mich! Verfehlen werd ich Dich nicht. Freund
23
Tiro
wird alles besorgen. Gott gebe nur, daß in Münster alles gut
24
überstanden wäre. Ich umarme Dich und bin mit allen den meinigen Dein alter
25
treuer
Johann Georg.
26
Liebster Jonathan Ariel
27
habe noch eine Abschrift des letzten Stücks gemacht und den Abschnitt
28
vollendet.
Crispus
ist heute ausgeblieben u hat sich durch Michel
29
entschuldigen laßen. Beyde Abschriften müßen verglichen u ergänzt werden. Die Noten
30
stehen dorten und bloß die zu den neuen Stellen stehen hier.
31
Ich muß einmal aus dem Wust heraus kommen damit nicht alles
32
verschimmelt; und erwarte von Dir einige Beyhülfe, da ich
Te autore
t
Te
33
consule cet
das Ding angefangen. Aber Abschrift von diesem letzten Stück
34
wünschte ich wohl mit Notaten. Ich muß den Wisch aus den Augen haben
35
und weiterkommen und mir Raum machen zur Herberge für die
S. 424
Resultate
. Guten Abend und Gott empfohlen! samt den Deinen u Meinen bis
2
Münster
incl.
3
Adresse:
4
An / HErrn Geheimen Rath Jacobi / zu /
Düßeldorf
.
Dem nach London nachgesandten Brief lagen bei: Eine Nachschrift Schenks, die einen Auszug aus der VI. Fortsetzung des „Fliegenden Briefes“ enthielt, Mitteilungen Schenks sowie seine Abschrift einer Rezension von Jacobis Schrift „Wider Mendelssohns Beschuldigungen“ aus den „Göttingischen Anzeigen“ (Provenienz: ebd.):
572/6
Hamannen schicke ich morgen die begehrte Abschrift seiner 6
ten
7
Fortsetzung zu.
8
Auszug aus der
VI
ten
Fortsetzung
.
9
Lauter Beweise von dem unzertrennlichen Bande zwischen dem
10
Geiste der Beobachtung u Weißagung. Unser Wißen zwar ist
11
Stückwerk, und unser Weißagen Stückwerk; vereinigt aber ist es
12
eine 3 f.che Schnur, die nicht leicht entzwey reißt. Fällt einer, so
13
hilft ihm sein Geselle auf: und liegen sie beyeinander, so wärmen
14
sie sich (
Jer.
LXI.
7
Pr. Sal.
IV.
10. 12).
Was wäre alle
15
Erkenntnis des Gegenwärtigen, ohne eine Göttliche
16
Erinnerung des Vergangenen, und ohne eine noch
17
glücklichere Ahndung des Künftigen
, wie Sokrates
18
seinem Dämon verdankte? Was wäre der Geist der Beobachtung
19
ohne den Geist der Weißagung und seine Leitfäden der
20
Vergangenheit und Zukunft. Er läßt seine Gaben auch über die
21
Abtrünnigen träufeln, daß der Herr dennoch daselbst ohne ihr Wißen
22
und Willen
incognito
bleibe und
wohne.
p.p.
23
Nach der Stelle über Lavater: – Erbarmt euch mein, erbarmt
24
euch mein, ihr meine Freunde, denn die Hand Gottes hat auch mich
25
gerührt. Ohne eure
Wohlthaten
und ihren Genuß wäre mein Leben
26
Hiobs und Lazarus seinem ähnlich gewesen. Hoffnung des
27
Wiedersehens in dem rechten Vaterlande aller Fremdlinge und
28
Pilgrimme u. Wallbrüder sey unser Abschied u. gemeinschaftlicher
29
Trost. Der Todte braucht weder Schild noch Lohn. Ihr
30
Hausgötter des Lebendigen, erniedrigt mich nicht selbst durch Thorheit u.
31
Eitelkeit, u. erhöht keinen Todten zu einem Götzen. Sorgt nicht,
32
weder mir noch meiner Statur eine Elle hinzuzusetzen. Das Maas
33
meiner „Größe“ sey keines Riesen noch Engels, keine Hand
34
breiter, als eine gemeine Menschenelle. Damit die Welt nicht
35
gebrandschazt werde, einen verweseten Sünder mit dem Nimbus
36
eines „Heiligen“ zu überkleiden und zu verklären, macht mir lieber,
37
da
mit
ß man auf mich deute, Schnurrbärte in meinem Leben,
S. 573
so lange ich noch mit lachen kann. Ich will mich aber selbst
2
entkleiden, meine Hände ausbreiten, wie sie ein Schwimmer
3
ausbreitet, um über das stille fließende Waßer der Vergeßenheit zu
4
schwimmen, oder darinn
unterzugehen
.
5
– – –
………
6
Lieber edler Mann! Eigene Dürftigkeit hat mich gezwungen,
7
um heute nicht ganz leer vor Ihnen zu erscheinen, von fremdem
8
Reichthum zu borgen, und was ich zusammen gebracht, ist eine
9
Gabe, die sich sehen laßen darf. Hamanns fl. Brief nimmt mit
10
jeder Fortsetzung an Vortreflichkeit zu. – Von Barmen noch
11
keine Antwort. Bentink läßt sich entschuldigen, daß er Ihnen nicht
12
Wort gehalten, hat sich aber noch nicht erklärt. Die Abschr. der
13
Rechnung zu 5 p % ist jetzt in seinen Händen. Gern möchte er an
14
den 2000 rl, wie ein Jude, noch abdingen. Doemming hat ihm
15
aber sehr gut geantwortet. Man muß nun sehen wie es geht. Ich
16
schließe. Ihnen u Ihrer lieben Schwester Willkommen in
London
!
17
Erhalten Sie Sich gesund.
Ihr Sch.
18
von Jacobi vermerkt:
den 19
ten
Juni empf.
19
Götting. Anzeigen. 85. Stück. 29
ten
May 1786.
20
„J. H. Jacobi wider M. Beschuldigungen p.p.“ Es war freylich
21
wohl nicht zu erwarten oder zu verlangen, daß auf die bisherigen
22
wider ihn gerichteten Schriften der Verf. nicht antworten sollte.
23
Und wir zeigen diese Antwort nicht nur der Unpartheylichkeit
24
gemäß, sondern auch um so viel lieber an, da sie, auch außer der
25
Beziehung auf die Privatstreitigkeit, lehrreiche und anziehende
26
Seiten enthält. Unterdessen bergen wir nicht, daß wir, wenn es
27
möglich ist, diesen Streit bald geendigt wißen möchten. Er wird
28
zwischen Männern geführt, die beyderseits die Achtung des
29
Publikums in einem solchen Grade haben u. verdienen, daß es kein
30
Vergnügen seyn kann, den einen oder den andern unterliegen zu sehen;
31
zumal da es izt auf etwas anders
u.
mehreres ankömmt, als auf
32
einen Grad der Deutlichkeit u. Gründlichkeit in Behandlung
33
metaphysischer Begriffe.
Lehrreich
kann freylich dieses
34
alles für den Philosophen seyn. Rec. muß aber bekennen, daß seine
35
Apathie noch nicht weit genug geht, um bey solchen
S. 574
Verhandlungen
nur
kaltblütig beobachten
zu können. Auch was die
2
Erörterung des dogmatischen Theils der Streitgegenstände
3
anbelangt, kann sich Rec. des Gedankens nicht entwehren, daß der Vf.
4
selbst, wenn einst die
völlige Stille
folgen wird, einiges doch
5
anders gesagt
wünschen werde. Es hat an sich schon etwas
6
bedenkliches, Behauptungen vor dem großen Publ. aufzuthürmen,
7
von denen man selbst gesteht, daß ein
Salto mort.
nöthig sey, um
8
von ihnen wieder auf festen sichern Boden zu kommen. Wenn nun
9
vollends der polemische Eifer eines Schriftstellers, der zwar scharf
10
sieht, aber auch sehr stark empfindet, hinzukömmt: so ist kaum zu
11
erwarten, daß alles so werde beurtheilt und vorgetragen werden,
12
wie es in allseitiger Absicht zu wünschen seyn möchte. Der
Vf.
13
wird dem Rec. die Bescheidenheit zutrauen, daß dieß keine
14
hochkunstrichterliche zurechtweisung seyn soll: sondern nur
freymüthiges
15
Bekenntniß der Privatmeynung eines Mannes, der doch in den
16
Dingen, auf die es ankömmt, nicht ganz unerfahren ist. Daß er
17
ins Einzelne sich einlaße, und mit streite; kann wohl nicht, am
18
allerwenigsten hier, von ihm gefordert werden.*
19
* Note des
Ein
Abschreibers:
20
Neque accipere, neque abnuere,
prudentioribus
mos, quippe
21
qui
ambiguis fortentiis commune periculum effugere
22
studebant
.
Tac.
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 239–244.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 344–352.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 236–241, 255–257.
ZH VI 418–424, Nr. 976.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
419/36 |
nothig ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: nöthig |
|
420/28 |
eben so ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ebenso |
|
421/8 |
lahmer ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: lahmer, |
|
421/37 |
bey ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bei |
|
421/37 |
Hartknoch ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Hartknoch, |
|
421/37 |
Augenblick ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Augenblick, |
|
423/19 |
rächen . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: rächen. |
|
423/28 |
Crispus |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Crispus |
|
572/14 |
Jer. LXI. 7 |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Jer. LXI. 7 |
|
572/22 |
wohne. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wohne |
|
572/25 |
Wohlthaten ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Wohltaten |
|
573/4 |
unterzugehen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: unterzugehn |
|
573/5 |
– – – ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: – – – – |
|
573/31 |
u. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: und |
|
574/1 |
Verhandlungen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: verhandlungen |
|
574/5 |
anders gesagt |
Geändert nach der Handschrift; ZH: anders gesagt |
|
574/12 |
Vf. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Verf. |
|
574/14 |
freymüthiges ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: freymütiges |
|
574/20 |
prudentioribus |
Geändert nach der Handschrift; ZH: prudentioribus |
|
574/21 –22
|
ambiguis […] studebant.] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: ambiguis fortentiis commune periculum effugere studebant. |