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Kgsb. d 22 Jun. 86.
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Mein Herzenslieber Fritz-Jonathan! Nun hoff ich und wünsche Dich
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unterwegens, der seine Straße mit frohem Muthe fährt. Meine beyde letzten
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Briefe waren in dieser Voraussetzung schon geschrieben. Ich bin voll
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Verdruß, Kummer u Sorgen, werde es so lange seyn, biß mir die Nachricht von
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Deiner glückl. vergnügten Zurückkunft, wieder ein wenig Freude machen
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wird. Unser Briefwechsel muß nun gänzlich aufhören, und Freund Schenk,
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an den ich den 2ten
Correctur
Bogen zurücksende, bleibt jetzt mein einziger
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Correspond
ent. Dich dort mit meinen Pinseleien zu verfolgen, komt mir wie
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die gröste Grausamkeit vor. Daß dies Jahr nichts aus meiner Reise werden
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würde, ist meine Ahndung und beynahe mein eigener Wunsch gewesen. Ich
S. 439
habe Dir kein
Geheimnis
daraus gemacht. Dieser Umstand kann mir
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also nicht nahe gehen. Bekümmere Dich also um einen Menschen nicht, dem
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weder zu rathen noch zu helfen ist. Hartknoch hat mir 8 Tage auf dem Halse
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gelegen, und noch mehr Verwirrung zurück gelaßen, wovon ich eben so wenig
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begreifen kann. Daß Leute, die sich selbst nicht verstehen können, sich immer
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in fremde Angelegenheiten mischen. Dies ist mein eigen Unglück. Die beyden
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L. Briefe habe an Schenk beygelegt. Ich habe den Mann bewundert, und
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bedaure ihn jetzt mit noch mehr Sympathie. Wie engelrein denkt und schreibt
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der Mann! und wie menschl. handelt er! Aus Deinem Extract des Briefes
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vom 27 May vermuthe ich, daß er eine Rechtfertigung geschrieben, von der
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ich noch nichts gehört, und mich darüber wundere. Es hat mich befremdet,
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mein lieber Fritz J. daß Du nicht eben die
Freymüthigkeit
gegen mich
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in der zweiten Person ausübst. Ich fürchte aber wie er, daß sie auch
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vergebens
seyn würde. Das
Du
durch die dritte Hand verliert allen Effect
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der Leidenschaft und Vertraulichkeit, und kommt mir affectirt vor: vielleicht
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aus der einfältigen Ursache, daß ich es nicht gewohnt bin. Ich begreife nicht,
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wie ich in meiner gegenwärtigen Lage an meine Arbeit denken soll; und doch
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habe ich, um selbige zu fördern, Ruhe mir gewünscht wenigstens dies Jahr
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durch. Statt deren nichts, als noch eine größere Unruhe, die ich weder Dir
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noch mir selbst zu erklären im stande bin.
Cr.
geht es mit seinen klaren
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Begriffen eben so wie mir mit meinen dunkeln Empfindungen. Er ist der einzige,
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der mir noch treu bleibt, auf wie lange? wißen wir beyde selbst nicht. Vor
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der Hand spricht er mir Muth ein, so sehr er ihn selbst braucht. Hörst Du
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von
Tiro
daß ich ihm Arbeit liefere, mit der er zufrieden ist: so lebe ich, und es
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geht mir nach Wunsch. Das ist alles, was Du zu wißen brauchst. Hätte ich Ja
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erhalten: so hätte mich an nichts gekehrt, und ich wär mit Haut u Haar, wie
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ich ausgesehen hätte, abgefahren, hätte mich allem unterworfen, was mein
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Schicksal zu meiner Demüthigung oder Erqvickung zugedacht hat. Nun bin
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ich mit meiner eigenen Baarschaft bezahlt, u durch meine Sophisterey
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gefangen.
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Schenkt mir Gott nur so viel Gesundheit u Kräfte, daß ich in meiner
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Arbeit
weiter
, nur
weiter
kommen kann: so bin ich für meinen Verzug
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belohnt, und kann mit leichterem Kopf u Herzen das Ende u Ziel meiner
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Wünsche sehen. Findst Du wol in allem dem, was ich schreibe,
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Menschenverstand? oder wird durch Deine Aufrichtigkeit die Frage entschieden und
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dem Mangel abgeholfen? Ich kann diese Woche an keine Arbeit denken, und
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muß die Gährung übergehen laßen. Vielleicht komt übermorgen der dritte
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Correcturbogen an, und ist mir erträglicher, gesunder u vernünftiger.
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Absolution von oben, Mitleiden von Dir, lieber Jonathan! wenn es Euch beiden
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Lehrgeld kosten sollte: so lernt Niemanden für gut halten weder Euch selbst,
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noch Euern Nächsten. Wer hat es je beßer gemeint, als Dein Nachbar und
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Du mit mir, und ich mit Euch. Was ist der
gute Wille
für ein schöner
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Pendant
zur
reinen Vernunft
? Verdienen sie nicht beide einen
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Mühlenstein am Halse? Gottes Barmherzigkeit ist die einzige seeligmachende
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Religion, hat
Dangeuil
zu meinem Freunde in Riga recht gut gesagt. Ich
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erwarte mit jeder Post einen Brief aus Münster, daß alles gut und glückl.
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überstanden ist; vielleicht ist Schenk so gut mir Nachricht, so bald ers
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erfährt, zu geben. Ich bin weder im
stande
nach W. noch W. zu schreiben.
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Beide werden die Nachricht wohl ohne mich erfahren. Kann ich arbeiten, so
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gönne mir die Ruhe dazu, und stärke mich durch ein paar Zeilen Einl. an
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Freund
Tiro,
der Deine Stelle in allem vertreten wird, was durch einen
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treuen u klugen Mittelmann gethan werden kann. Wenn es nur nicht an mir
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liegt, an ihm gewiß nicht. Es sey immerhin
malus pudor,
Ihren
Deinen
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errorem calculi in puncto
der Größe u Heiligkeit aufzudecken. Die
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Wahrheit wolle uns beyde, lieber Fritz! frey machen selbst auf Kosten des
je ne
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sai
s
quoi
unserer Freundschaft. Laße mir nur Zeit, bis ich mich wider
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besinnen kann. Ich lebe und ersterbe in jeder Gestalt
I
Dein immer begleitender
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Schatten Johann Georg. Ich dachte Wunder, was ich schreiben würde in
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diesem Steckbriefe.
Hoc age,
sey gantz in Engl. und genieß des Guten. Das
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ist die Hauptsache, die ich Dir einprägen wollte. An mich wird die Reihe auch
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kommen, aber nicht eher als zu Seiner Zeit, die eben das Rätzel ist, worüber
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ich mir umsonst den Kopf zerbreche.
Amare et sapere aude et vale.
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den 12
Julii.
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Nun Gottlob! mein lieber wallfahrender Jonathan, daß Du vergnügt u
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glückl. in London angekommen bist. Seit Deiner Abreise hab ich kein Herz
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gehabt an Dich zu schreiben, und änderte bey dem ersten Brief von dem ich
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vermuthen konnte, daß er durch die dritte Hand erst gehen sollte, die
Person
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und
Zahl
der Vertraulichkeit, aus einer Art von natürl. Schaam – Mein
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Joh. Michel kam heute mit leerer Hand von Fischer. Eine halbe Stunde
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nachher brachte mir ein Bote diese Einl. vom 29
pr.
aus der ich Deine glückl.
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Reise ersehe, und ich wurde wie neu geboren. Eben schrieb ich an Hartknoch,
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der mir unschuldiger Weise viel Gram u Sorgen gemacht hat, durch seinen
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guten Willen
, sich um meine mittelste Tochter verdient zu machen, die
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er durchaus bey der Baroneße auf seine Kosten anbringen wollte, weil er
S. 441
sich in ihre kleine Anlage zur Music vergafft hatte. Es sollte eine
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Nachahmung vielleicht des Alcibiades seyn, und war im Grunde eine
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kaufmännische Speculation
, die auf ritterl. Ebentheuer hinauslief. Meine
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damalige Verlegenheit und Gemüthsverwirrung über die Antwort der
Gen.
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Isabel benahm mir alle Sinnen u Aufmerksamkeit. Er machte alles mit der
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Baroneße schriftlich und mit mir mündlich ab, verwies immer den einen auf
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den andern. Der
Curator
meines Vermögens, Dein Namensvetter leider!
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gegen den ich schon lange das Herz voll gehabt u noch habe, wegen seiner
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Frankfurter Denkungsart
, die ich wie die jüdische immer gehaßt
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habe, hatte mir auch den Kopf warm gemacht wegen seines Characters am
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meisten in seinem Betragen gegen Hill. Geldangelegenheiten sind für mich
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Ratzenpulver. Hartkn. hatte mich treuherzig gemacht, die Sorge meiner
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Capitalien
zu theilen. Ich auf diesen Rückhalt muthig, machte mir selbigen zu
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Nutze, um den alten
Curator
ein
Capital,
das er mir
halb
aufkündigen
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wollte beym Worte zu halten, und erkläre ihm daher, daß ich seine
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Interessen
eben so wenig nöthig hätte, als
jeder
der
dritte Freund den Theil meines
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Capitals,
von dem die Rede gewesen war, und deßen Zurückzahlung auf die
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Weinlese
ankommen sollte. Der Vetter dringt mir die
Interessen
zu
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Bezahlung der vierteljährigen
Pension
8 Tage eher auf, als ich dem
Termin
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nach bezahlen sollte. Ich noch denselben Tag zur Baroneße, mehr aus
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Vorsicht
als Vorwitz. Hartkn. hatte uns beyden eingebildet, alles schon
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abgemacht zu haben. Wir wusten beyde von nichts. Sie vertraute mir die
Briefe,
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und ich das Mündliche. Die Baroneße hatte sich blos erklärt, daß sie aus
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Freundschaft für mich noch eins meiner Kinder nicht abweisen würde – und
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ich eben so herzlich, alle meine Mädchen von ihrer Mutter-Hand erzogen zu
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sehen. Diese allgemeine unbestimmte Erklärung hatte er für eine förmliche
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Abrede jedem Theil eingebildet, ohne mir zu sagen, daß er die Kosten dazu
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hergeben wollte, welches mir auf keinerley Weise einfallen konnte, u die
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Baroneße sich eben so wenig von mir vorstellen. Wir wurden also gleich einig,
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daß wir beyde uns dazu nicht verstehen konnten. Unterdeßen that mir die
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Uebereilung gegen den alten
Curator
Leid – und ich war in Verlegenheit,
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meine Gelder unterzubringen, die ich nicht gern
fest
haben wollte und
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Hartkn. gern auf sein Haus hatte
ingrossi
ren laßen, um dort
armer
zu
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scheinen, als er wirklich ist. Die Hauptsache war ein Handel auf meine
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älteste Tochter, die er seinem verzognen Kinde zur Gesellschafterin und
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Gouvernante,
aus schwärmerischem Vertrauen zugedacht hatte. Dieser
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Plan machte ihn von einer Seite
so
weiß
und von der andern
so
S. 442
schwarz
und für meine
Leichtgläubigkeit
, die eben so weit geht als
2
mein
Mistrauen
, daß ich mich wie eine arme Fliege in einem
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Spinngewebe zerarbeitet habe. Meine
infarctus
wirkten auch dabey meisterhaft.
4
Den 1
Jul.
fieng ich die Kämpfsche Cur an; den Sonntag brachte mir meine
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Hausmutter eine glückl. Probe. Ich war vor Freuden außer mir, gieng in
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die Kirche und trieb mich den gantzen Tag herum, wie
Fontaine
vom Baruch,
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meinen mitleidenden Schwestern u Brüdern den Wunderanfang zu
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erzählen der beyden
Experimente
– Darnach fanden sich solche Schmerzen, daß
9
ich mit dem 9
Lavement
den 4 aufhören muste und beynah in Ohnmacht
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gefallen
war
.
Seitdem brauche ich die Mittel von oben u vermuthe daß die
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güldene Ader, von der ich in meinem Leben bisher nichts gewußt, an diesem
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gantzen Aufruhr meiner Natur schuld gewesen. Auf die Woche will ich noch
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eine Probe machen, selbst zu
applici
ren, ehe ich vollends auf diesen Weg des
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Genies
und Sitzleders Verzicht thue. Heute habe ich nach Riga die Antwort,
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vor der mir gegraut, vollig abgemacht, und alle
domestica mala
sind
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Gottlob! glücklich beygelegt. In der Laune dieses Fegfeuers schrieb ich – und
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wollte die Feder nicht weiter ansetzen, sondern mit meinem gantzen
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Briefwechsel bis zu Deiner glückl. Heimkunft an mich halten. Bey diesem Vorsatz
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beharr ich, weil ich gern mit meinem Bettel fertig werden möchte und alles
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an dem vierten Bogen liegt, den ich mit jeder Post entgegen sehe. Deshalb
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mach Dir lieber Jonathan keine Sorgen und bekümmere Dich um nichts als
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Freundschaft u Engl. zu genießen. Sorge für nichts auf dem festen Lande als
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für Dein Haus. Ich muß meinen
Leib
u meinen
Kopf
rein haben, ehe
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ich ans Reisen denken kann. Mit der jetzigen Ladung wäre ich nicht weit
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gekommen sondern unterwegens sitzen geblieben.
Crispus
hat sich auch ein
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Organon
angeschafft zur Cur, will aber erst selbige in seiner neuen
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Wohnung auf Michaelis anfangen. Kant klagt mir vorgestern Abend seine bittere
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Noth, daß er seinen
Sphincter
nicht zur Oeffnung bewegen könnte. Er
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schreibt über das Mendelssohnsche
Orienti
ren etwas – aber ist Dein Freund
30
u des Resultatenmachers.
Crispus
studiert auch jetzt den
Spinoza,
und die
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Berl. Monatsschrift hat den Hierophanten Stark in der Mache. Die Allg.
32
lateinsche
Zeitung
hat Dich
recensi
rt, aber ich habe noch nichts zu sehen
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bekommen. Den 5. sind die
Resultate
angekommen. Ein Dutzend
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Danksagungen. Ich habe aber selbige noch nicht ansehen können.
Incredibile, sed
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verum.
Kant hat einen wichtigen Nebenbuler an
Abel
in
Stuttgard
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gefunden, der einen Ruff nach Göttingen hat. Die
Seelenlehre
hat mir mehr
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Gnüge gethan, als der Versuch über den Ursprung unserer Vorstellungen,
S. 443
der gröstenteils schon in jenem enthalten ist. Wenn dies Blat nicht abgehen
2
sollte, so mag alles bis zu Deiner vergnügten Heimkunft liegen bleiben. Gott
3
erhalte Dich und Deine Gefährtin
bey
gutem Muth. Meinen unverschämten
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Auftrag überlaße Deiner besten Ueberlegung und dem Lauf der Umstände.
5
Kannst Du Deinem Nächsten dienen, so thust Du gerne.
Ultra posse nemo
6
obligatur.
Verleger u Autor sind sich zieml. ähnlich
in partibus.
Ich ersterbe
7
Dein alter
Johann Georg.
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 255–259.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 362–367.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 261–266.
ZH VI 438–443, Nr. 984.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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440/11 |
stande ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: stande, |
|
441/16 |
jeder der ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: der |
|
441/22 |
Briefe, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Briefe |
|
441/33 |
armer ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ärmer |
|
441/37 |
so ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: so |
|
441/37 |
so ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: so |
|
442/10 |
war . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: war. |
|
442/35 |
Stuttgard ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Stuttgart |
|
443/3 |
bey ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bei |