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448/14
Kgsb. den
2
9
8
Jun.
86.
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Werthgeschätzter Freund
Tiro-
Schenk,
16
noch ehe ich diesen Morgen ausgieng Ihre Einlage vom 16 d. abzuholen,
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arbeitete ich schon an einer Antwort darauf, in der ich wenig oder nichts
18
ändern
darf
.
Sie beweisen mir Ihre Liebe mit der That; was kann einem
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armen Autor schmeichelhafter seyn, als Ihre unverdroßene Sorgfalt und
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Treue, womit Sie sich der herculischen Arbeit unterziehen – – Ich erkenne
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darinn und fühle aufs lebhafteste die Harmonie Ihrer Gesinnungen mit
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unserm Freunde, und Ihr gegenseitiges Glück.
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Es fehlt mir schlechterdings
mens sana in corpore sano
– Ich werde also
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wo möglich noch diese Woche in Gesellschaft meines nächsten Freundes Kraus
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mit der Kämpfschen Cur den Anfang machen. Bin seit einer ganzen Woche
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nicht
im stande
gewesen einen vernünftigen Begriff zu haben – Mein fester
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Vorsatz ist also in diesem Zustande nicht die Feder anzusetzen, bis ich den
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vierten Correcturbogen werde erhalten haben, den ich nicht eher zu
remitti
ren
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willens bin, als bis ich selbigem das ganze
Mst
beygelegt habe. Jede
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außerordentl. Veranlaßung wird für mich eine Ausnahme von dieser
Regul
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seyn.
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Die Gedult und Nachsicht unsers Freundes für mich ist unbegreiflich; ich
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will selbige aber nicht misbrauchen, noch erschöpfen – nicht aus einem
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Mitleidenswürdigen zu einem Verachtungswürdigen – –
S. 449
Aus einer
securitate
oder
imbecillitate,
die ich mir selbst nicht zu erklären
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im stande bin, habe ich nichts hier aus dem ich mich heraushelfen kann um
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mich auf das, was ich geschrieben habe, deutlich besinnen zu können.
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Die 3 Bogen bleiben, wie sie sind, sie mögen gerathen seyn, wie sie wollen;
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aber die
letzte Hälfte
muß mit Ernst und Ueberlegung ausgeführt
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werden. Ich begreife selbst nicht, wie ich trotz meiner Ungedult zur Sache zu
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kommen, mich immer weiter davon habe entfernen können, und so weit, daß
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ich im eigentl. Verstande in eine Wüsteney gerathen bin, aus der ich mich
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nicht wider herauszufinden weiß, und mir selbst die letzte Gewalt anthun
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muß. Autorschaft ist eine wahre
Versuchung
– aber Gott i
ch
st
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getreu
er
, und ich hoffe, daß das Ende
erträglich
seyn wird.
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Ich habe nicht ins Gelach und aufs Gerathewohl angefangen, sondern
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einen Plan im Kopf und im Herzen gehabt; aber bey dem vierten
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Correcturbogen habe ich nöthig die Augen aufzusperren, und alle meine Sinnen und
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Kräfte zusammenzunehmen, um gehörig einzulenken.
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Alle bisherigen Ausschweifungen laßen sich noch ziemlich bemänteln mit
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der Maske eines Predigers in der
Wüsten
. Bey den ersten 3 Bogen bleibt
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es; die 3 oder 4 letzten müßen einen andern Schwung nehmen, wenn nicht der
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letzte
Betrug ärger als der
erste
werden soll.
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Ich erwarte also am liebsten den
vierten Bogen auch gedruckt
,
21
wenn er auch einem
Bidental
ähnlich sieht, und wenn noch etwas vom
Mst
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übrig bleiben sollte, auch eine Abschrift oder das Original bis auf das letzte
23
Anhängsel im
P. S.
welches sich anfängt: Gott
ist groß und unbekannt
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– welches ich nicht nöthig habe. Diesen vierten Bogen erwarten Sie nicht
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anders als mit dem Rest der ganzen Handschrift. Gott weiß allein;
wenn
?
26
und
wie bald
?
27
Ihr Auge hat dem meinigen nichts übrig gelaßen in dem letzten
28
Correcturbogen die einzige Kleinigkeit S. 18 ausgenommen, wo zwischen
prius
und
29
more
ein bloßes kleines
Hyphen,
kein
Signum omissionis
oder
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Gedankenstrich stehen muß. Bisher hat keine meiner flüchtigen Blätter das Glück
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gehabt, so correct wie diese Bogen abgedruckt zu werden. Das
verkannt
für
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verkennt S. 22 wird wohl von uns schon bemerkt worden seyn.
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Ich hoffe, werthgeschätzter Freund
Tiro Schenk,
daß Sie mein
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Stillschweigen bey meiner gegenwärtigen Lage eben so billigen werden, als mein
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Entschluß den vierten Bogen so lange zurückzuhalten, bis ich mit dem Ganzen
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fertig bin, oder wenigstens festen Grund habe – Sollte dies dem Buchdrucker
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nachtheilig seyn; so bitte es mir zu melden.
S. 450
So bald die Resultate für mich ankommen, bescheinige Ihnen sogl. meinen
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Empfang und Dank. Gegenwärtig kommen sie zeitig gnug für mich zum
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Lesen. Was Jmo gesagt, ist mein eigener Fall, daß manche meiner eigenen
4
Gedanken beßer entwickelt sind, als ich es selbst
imstande
gewesen wäre. Ein
5
mehr
Quasi-
Urtheil von mir erhalten Sie auch, so bald wie mögl. weil unser
6
Freund es ausdrückl. verlangt, ohne mich an das Urtheil des Publici zu
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kehren. Ohne Einfluß des Namens soll es gewiß seyn. Man vermuthet hier
8
einen
geschick
t
en
Mann, der schon manches geschrieben, von dem ich aber
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nichts bisher gesehen. Sein Name ist Rehberg; er hat in Göttingen sich
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aufgehalten. Eberhard in Halle hat viel Gutes von ihm geurtheilt. Meines
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Wißens hör ich den Namen des Mannes zum ersten mal; er soll aber in
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Ihren Gegenden sich dort aufhalten.
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Gestern wird mir ein Buch zugeschickt, deßen Anfang ein sehr
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mittelmäßiger Roman zu seyn schien, des Ende mich aber desto näher angieng,
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weil es beynahe alles
anticipi
rt, was ich vom Catholicismo zu sagen willens
16
gewesen bin. Der Titel ist:
Entwickelung des Systems der
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Weltbürgerrepublik
.
18
Mein alter Verleger und
eventuell
er aller meiner verlornen Blätter hat
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mir einen Wurm zurückgelaßen, der mich gantzer 8 Tage genagt hat. Im
20
Mismuth antwortete ich den letzten Brief unsers reisenden Freundes, dem ich
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auch in der Verwirrung meines Gemüths einen unverschämten Auftrag
22
aufgebürdet, wegen der
Arcana Coelestia
des
Swedenborgii
Erkundigung
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durch irgend jemanden einziehen zu laßen. Ich werde diese Antwort nicht
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zurück halten – so bald ich im stande seyn werde ruhiger zu schreiben. Die
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Sache war des Eindrucks nicht werth, den sie auf mich machte; zu kleinfügig
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u zu eckel, mich darüber auszulaßen, weil es
domestica
betrifft. Wenn in
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meinen Eingeweiden ein Aufruhr ist, so geht es mir wie einem feuerspeienden
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Berge, bey allem seinen unfruchtbaren Eise auf dem Scheitel, der Steine und
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Asche um sich wirft. Mein Vertrauen und Mistrauen weiß von keinen
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Gränzen. So geht es mir mit mir selbst, und mit meinen Nächsten. Die
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heiße Witterung vermehrt den Druck meiner Lebensgeister. Seit 8 Tagen
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umgeben uns Gewitter, die zu keinem Ausbruch kommen können. Die
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jüngsten u gesündesten Leute verschmachten, und haben wenig Appetit zum Eßen.
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Der meinige nach Fleisch ist immer derselbe. Eine unnatürliche Schärfe kann
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allein daran Schuld seyn. Die zurückgegangene Reise stimmte mit meinen
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Ahndungen und Wünschen überein. Wie wär es mit dem Geschwür im
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Kopf, bey der gegenwärtigen Hitze unterwegs mir ergangen? Die
S. 451
Cruditäten
in meinen Gedärmen und meinem Gehirn – – Ich muß beyden erst ein
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wenig Luft zu machen suchen.
3
Die Verehrung hat mich wie ein süßer Wein berauscht; Verachtung ist der
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bittere Kelch zu meiner Genesung, und dazu bin ich entschloßen – – Daß ich
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mit dem vierten Bogen einer neuen Epoche nöthig habe, werden Sie
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werthgeschätzter Freund
Tiro
einsehen. Den erwarte ich noch, er mag aussehen wie
7
er wolle. –
8
So bald ich die
Resultat
e erhalte und das geringste vorfällt, woran
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unserm reisenden Freunde oder Ihnen etwas gelegen seyn könnte, werde ich
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nicht zaudern noch mich bedenken, zu schreiben. Ich bin mir hier aber selbst
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unentbehrlich, zu meiner Cur und Entbindung meiner Uebel, so lange ich
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noch die Hoffnung habe, daß selbige
corrigible
u
reparable
sind – es sey
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cunctando
oder
peremtorie.
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Da ich kein ander Mittel als die Feder vor mir sehe, zum letzten Genuß
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meines Lebens zu gelangen: so scheint dies meiner Arbeit ein neues Gewicht
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zu geben, wenn nicht alles auf
Eitelkeit
hinaus läuft
. Diese traurige
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Gestalt aller menschlichen Dinge ist der letzte Trost.
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Werden Sie nicht müde die Abwesenheit unsers reisenden Freundes zu
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ersetzen mit eben der Genauigkeit wie Sie mir den Tag u die Stunde seines
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Abzuges gemeldet haben. Alte Leute lieben den
Detail
und beschäftigen damit
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ihre müßige Einbildungskraft.
22
Ich werde meine Gelübde auch zu erfüllen suchen. Meine Gedanken und
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beste Wünsche begleiten meinen Jonathan, und bleiben Sie unser beyder
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Ariel. Ich vermuthe, daß Sie nach Pf. u W. keine andere als corrigirt u
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abgedruckte Bogen schicken; vom vierten nichts, als biß er zurückkommt. Hat
26
Lavater sich gegen Markart gerechtfertigt? Ich habe seinen
Geist
oder
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Gespenst am Johannistage gelesen, so flüchtig wie mögl. und Pfenningers
28
Dedication
des
V.
Bändchens seiner jüdischen Briefe an den Wanderer Hill,
29
den ich mich wundere noch nicht, wie die vorigen, erhalten zu haben. Sie
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kommen Zeit gnug, und ich lese am liebsten Bücher, wenn sie zu Ende sind. Ich
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hoffe Sie werden mich beßer verstehen, als ich mich zu erklären im stande bin,
32
und beßer lesen, als ich zu schreiben
imstande
bin. Gott sey mit Ihnen und
33
Ihrem alten verpflichteten Joh. Ge. H.
34
am Tage St Paul u St Peter.
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 65.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 260.
ZH VI 448–451, Nr. 987.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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448/14 |
2 9 8 ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: 2 8 9 |
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448/18 |
darf . |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: darf. |
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448/26 |
im stande ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: im stande |
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450/4 |
imstande ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: im stande |
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450/8 |
geschick t en ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: geschickten |
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451/1 |
Cruditäten ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Cruditäten |
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451/16 |
hinaus läuft ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: hinausläuft |
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451/32 |
imstande ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: im stande |