987
448/14
Kgsb. den
2
9
8
Jun.
86.

15
Werthgeschätzter Freund
Tiro-
Schenk,

16
noch ehe ich diesen Morgen ausgieng Ihre Einlage vom 16 d. abzuholen,

17
arbeitete ich schon an einer Antwort darauf, in der ich wenig oder nichts

18
ändern
darf
.
Sie beweisen mir Ihre Liebe mit der That; was kann einem

19
armen Autor schmeichelhafter seyn, als Ihre unverdroßene Sorgfalt und

20
Treue, womit Sie sich der herculischen Arbeit unterziehen – – Ich erkenne

21
darinn und fühle aufs lebhafteste die Harmonie Ihrer Gesinnungen mit

22
unserm Freunde, und Ihr gegenseitiges Glück.

23
Es fehlt mir schlechterdings
mens sana in corpore sano
– Ich werde also

24
wo möglich noch diese Woche in Gesellschaft meines nächsten Freundes Kraus

25
mit der Kämpfschen Cur den Anfang machen. Bin seit einer ganzen Woche

26
nicht
im stande
gewesen einen vernünftigen Begriff zu haben – Mein fester

27
Vorsatz ist also in diesem Zustande nicht die Feder anzusetzen, bis ich den

28
vierten Correcturbogen werde erhalten haben, den ich nicht eher zu
remitti
ren

29
willens bin, als bis ich selbigem das ganze
Mst
beygelegt habe. Jede

30
außerordentl. Veranlaßung wird für mich eine Ausnahme von dieser
Regul

31
seyn.

32
Die Gedult und Nachsicht unsers Freundes für mich ist unbegreiflich; ich

33
will selbige aber nicht misbrauchen, noch erschöpfen – nicht aus einem

34
Mitleidenswürdigen zu einem Verachtungswürdigen – –

S. 449
Aus einer
securitate
oder
imbecillitate,
die ich mir selbst nicht zu erklären

2
im stande bin, habe ich nichts hier aus dem ich mich heraushelfen kann um

3
mich auf das, was ich geschrieben habe, deutlich besinnen zu können.

4
Die 3 Bogen bleiben, wie sie sind, sie mögen gerathen seyn, wie sie wollen;

5
aber die
letzte Hälfte
muß mit Ernst und Ueberlegung ausgeführt

6
werden. Ich begreife selbst nicht, wie ich trotz meiner Ungedult zur Sache zu

7
kommen, mich immer weiter davon habe entfernen können, und so weit, daß

8
ich im eigentl. Verstande in eine Wüsteney gerathen bin, aus der ich mich

9
nicht wider herauszufinden weiß, und mir selbst die letzte Gewalt anthun

10
muß. Autorschaft ist eine wahre
Versuchung
– aber Gott i
ch
st

11
getreu
er
, und ich hoffe, daß das Ende
erträglich
seyn wird.

12
Ich habe nicht ins Gelach und aufs Gerathewohl angefangen, sondern

13
einen Plan im Kopf und im Herzen gehabt; aber bey dem vierten

14
Correcturbogen habe ich nöthig die Augen aufzusperren, und alle meine Sinnen und

15
Kräfte zusammenzunehmen, um gehörig einzulenken.

16
Alle bisherigen Ausschweifungen laßen sich noch ziemlich bemänteln mit

17
der Maske eines Predigers in der
Wüsten
. Bey den ersten 3 Bogen bleibt

18
es; die 3 oder 4 letzten müßen einen andern Schwung nehmen, wenn nicht der

19
letzte
Betrug ärger als der
erste
werden soll.

20
Ich erwarte also am liebsten den
vierten Bogen auch gedruckt
,

21
wenn er auch einem
Bidental
ähnlich sieht, und wenn noch etwas vom
Mst

22
übrig bleiben sollte, auch eine Abschrift oder das Original bis auf das letzte

23
Anhängsel im
P. S.
welches sich anfängt: Gott
ist groß und unbekannt

24
– welches ich nicht nöthig habe. Diesen vierten Bogen erwarten Sie nicht

25
anders als mit dem Rest der ganzen Handschrift. Gott weiß allein;
wenn
?

26
und
wie bald
?

27
Ihr Auge hat dem meinigen nichts übrig gelaßen in dem letzten

28
Correcturbogen die einzige Kleinigkeit S. 18 ausgenommen, wo zwischen
prius
und

29
more
ein bloßes kleines
Hyphen,
kein
Signum omissionis
oder

30
Gedankenstrich stehen muß. Bisher hat keine meiner flüchtigen Blätter das Glück

31
gehabt, so correct wie diese Bogen abgedruckt zu werden. Das
verkannt
für

32
verkennt S. 22 wird wohl von uns schon bemerkt worden seyn.

33
Ich hoffe, werthgeschätzter Freund
Tiro Schenk,
daß Sie mein

34
Stillschweigen bey meiner gegenwärtigen Lage eben so billigen werden, als mein

35
Entschluß den vierten Bogen so lange zurückzuhalten, bis ich mit dem Ganzen

36
fertig bin, oder wenigstens festen Grund habe – Sollte dies dem Buchdrucker

37
nachtheilig seyn; so bitte es mir zu melden.

S. 450
So bald die Resultate für mich ankommen, bescheinige Ihnen sogl. meinen

2
Empfang und Dank. Gegenwärtig kommen sie zeitig gnug für mich zum

3
Lesen. Was Jmo gesagt, ist mein eigener Fall, daß manche meiner eigenen

4
Gedanken beßer entwickelt sind, als ich es selbst
imstande
gewesen wäre. Ein

5
mehr
Quasi-
Urtheil von mir erhalten Sie auch, so bald wie mögl. weil unser

6
Freund es ausdrückl. verlangt, ohne mich an das Urtheil des Publici zu

7
kehren. Ohne Einfluß des Namens soll es gewiß seyn. Man vermuthet hier

8
einen
geschick
t
en
Mann, der schon manches geschrieben, von dem ich aber

9
nichts bisher gesehen. Sein Name ist Rehberg; er hat in Göttingen sich

10
aufgehalten. Eberhard in Halle hat viel Gutes von ihm geurtheilt. Meines

11
Wißens hör ich den Namen des Mannes zum ersten mal; er soll aber in

12
Ihren Gegenden sich dort aufhalten.

13
Gestern wird mir ein Buch zugeschickt, deßen Anfang ein sehr

14
mittelmäßiger Roman zu seyn schien, des Ende mich aber desto näher angieng,

15
weil es beynahe alles
anticipi
rt, was ich vom Catholicismo zu sagen willens

16
gewesen bin. Der Titel ist:
Entwickelung des Systems der

17
Weltbürgerrepublik
.

18
Mein alter Verleger und
eventuell
er aller meiner verlornen Blätter hat

19
mir einen Wurm zurückgelaßen, der mich gantzer 8 Tage genagt hat. Im

20
Mismuth antwortete ich den letzten Brief unsers reisenden Freundes, dem ich

21
auch in der Verwirrung meines Gemüths einen unverschämten Auftrag

22
aufgebürdet, wegen der
Arcana Coelestia
des
Swedenborgii
Erkundigung

23
durch irgend jemanden einziehen zu laßen. Ich werde diese Antwort nicht

24
zurück halten – so bald ich im stande seyn werde ruhiger zu schreiben. Die

25
Sache war des Eindrucks nicht werth, den sie auf mich machte; zu kleinfügig

26
u zu eckel, mich darüber auszulaßen, weil es
domestica
betrifft. Wenn in

27
meinen Eingeweiden ein Aufruhr ist, so geht es mir wie einem feuerspeienden

28
Berge, bey allem seinen unfruchtbaren Eise auf dem Scheitel, der Steine und

29
Asche um sich wirft. Mein Vertrauen und Mistrauen weiß von keinen

30
Gränzen. So geht es mir mit mir selbst, und mit meinen Nächsten. Die

31
heiße Witterung vermehrt den Druck meiner Lebensgeister. Seit 8 Tagen

32
umgeben uns Gewitter, die zu keinem Ausbruch kommen können. Die

33
jüngsten u gesündesten Leute verschmachten, und haben wenig Appetit zum Eßen.

34
Der meinige nach Fleisch ist immer derselbe. Eine unnatürliche Schärfe kann

35
allein daran Schuld seyn. Die zurückgegangene Reise stimmte mit meinen

36
Ahndungen und Wünschen überein. Wie wär es mit dem Geschwür im

37
Kopf, bey der gegenwärtigen Hitze unterwegs mir ergangen? Die

S. 451
Cruditäten
in meinen Gedärmen und meinem Gehirn – – Ich muß beyden erst ein

2
wenig Luft zu machen suchen.

3
Die Verehrung hat mich wie ein süßer Wein berauscht; Verachtung ist der

4
bittere Kelch zu meiner Genesung, und dazu bin ich entschloßen – – Daß ich

5
mit dem vierten Bogen einer neuen Epoche nöthig habe, werden Sie

6
werthgeschätzter Freund
Tiro
einsehen. Den erwarte ich noch, er mag aussehen wie

7
er wolle. –

8
So bald ich die
Resultat
e erhalte und das geringste vorfällt, woran

9
unserm reisenden Freunde oder Ihnen etwas gelegen seyn könnte, werde ich

10
nicht zaudern noch mich bedenken, zu schreiben. Ich bin mir hier aber selbst

11
unentbehrlich, zu meiner Cur und Entbindung meiner Uebel, so lange ich

12
noch die Hoffnung habe, daß selbige
corrigible
u
reparable
sind – es sey

13
cunctando
oder
peremtorie.

14
Da ich kein ander Mittel als die Feder vor mir sehe, zum letzten Genuß

15
meines Lebens zu gelangen: so scheint dies meiner Arbeit ein neues Gewicht

16
zu geben, wenn nicht alles auf
Eitelkeit
hinaus läuft
. Diese traurige

17
Gestalt aller menschlichen Dinge ist der letzte Trost.

18
Werden Sie nicht müde die Abwesenheit unsers reisenden Freundes zu

19
ersetzen mit eben der Genauigkeit wie Sie mir den Tag u die Stunde seines

20
Abzuges gemeldet haben. Alte Leute lieben den
Detail
und beschäftigen damit

21
ihre müßige Einbildungskraft.

22
Ich werde meine Gelübde auch zu erfüllen suchen. Meine Gedanken und

23
beste Wünsche begleiten meinen Jonathan, und bleiben Sie unser beyder

24
Ariel. Ich vermuthe, daß Sie nach Pf. u W. keine andere als corrigirt u

25
abgedruckte Bogen schicken; vom vierten nichts, als biß er zurückkommt. Hat

26
Lavater sich gegen Markart gerechtfertigt? Ich habe seinen
Geist
oder

27
Gespenst am Johannistage gelesen, so flüchtig wie mögl. und Pfenningers

28
Dedication
des
V.
Bändchens seiner jüdischen Briefe an den Wanderer Hill,

29
den ich mich wundere noch nicht, wie die vorigen, erhalten zu haben. Sie

30
kommen Zeit gnug, und ich lese am liebsten Bücher, wenn sie zu Ende sind. Ich

31
hoffe Sie werden mich beßer verstehen, als ich mich zu erklären im stande bin,

32
und beßer lesen, als ich zu schreiben
imstande
bin. Gott sey mit Ihnen und

33
Ihrem   alten verpflichteten   Joh. Ge. H.

34
am Tage St Paul u St Peter.

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 65.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 260.

ZH VI 448–451, Nr. 987.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
448/14
2
9
8
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
2
8
9
448/18
darf
.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
darf.
448/26
im stande
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
im stande
450/4
imstande
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
im stande
450/8
geschick
t
en
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
geschickten
451/1
Cruditäten
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Cruditäten
451/16
hinaus läuft
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
hinausläuft
451/32
imstande
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
im stande