990
454/30
Pempelfort, am 4 t Jul. 1786.

31
L. V. H!

32
Der kranke Jüngling, welcher sich an den Resultaten fast zu Tode

33
geschrieben hat, stellet sich hier im Geiste vor Sie, und neiget sich ehrerbietigst vor

34
dem Manne, durch den er schon so viel frohe, schöne, erhabene und heilige

S. 455
Eindrükke empfangen hat. Ihr Einfalt und ihre Laune, Ihr Kinderglaube

2
und Ihr Scepticism; kurz Ihre Menschheit, so wie sie ist und wie ich sie

3
kennen lernte, ist für mich oft eine Speise und ein Trank gewesen, der meinen

4
ganzen Menschen auf das heilsamste durchregte. Auch ich bin einer von

5
denen, welche Sie in Pempelf. mit innigem Sehnen erwarten, und ich werde

6
glücklich genug seyn, wenn ich nur Eine
vertrauliche
Stunde an Ihrem

7
Herzen genießen darf.

8
Ich bin aus Wirtemberg. Mein Vater ist Tuchmacher in der herrschaftl.

9
Fabrik zu Ludwigsburg. Mich hat eine treue und fromme Mutter, die schon

10
vor zehn Jahren in die Wohnungen des Friedens heimgegangen ist, erzogen.

11
In Tübingen habe ich studiert, und durch den subtilen Ploucquet Geschmack

12
an der Philosophie, so wie durch den D. Storr Liebe zur Theologie

13
bekommen. Nach viertehalb Jahren, nahm mich der berühmte Hahn in

14
Kornwestheim, jetzt Pfarrer in Echterdingen, zu sich, und wirkte mir in Stuttgardt ein

15
früheres Examen aus, als nach den Gesezen erlaubt ist. In seiner

16
Gesellschaft und durch Oettingers Schriften, wurde ich tiefer in die Philosophie der

17
Bibel geführt. Heß, Lavater und Herder öfneten mir das Aug über die

18
Geschichte derselben. Der Leztere vorzüglich wirkte durch seine Urkunde und

19
andere kleinere Schriften mit einer gewissen Allgewalt auf mich. Drauf

20
wurde ich drey Jahre lang Vicarius in Essingen bey Aalen, bey einem

21
wunderlichen, aber mit philosophischer Litteratur und besonders mit der

22
Astronomie und dem Mikroskop bekannten Manne. Mendelssohn, Loke, Leibniz,

23
Wolf, Oetinger, Boehm, Herder u. a. waren hier meine Unterhaltung.

24
Damals schon wollte ich den Phädon wiederlegen, und weiß wohl noch, wie ich

25
mit dem Fuß auf die Erde stampfte, als ich den Sophismen zum erstenmahl

26
auf den Grund sah. Die Geschichte der Bibel ward mir immer theurer, je

27
bekannter ich mit der Philosophie wurde. Doch fand ich gewisse Begriffe, die

28
das Licht meines ganzen Lebens seyn werden. Immer freyer wurde mein

29
Urtheil. An dem dunklen Oetinger übte ich meine Analyse: Bengel war mein

30
Exeget, aber an keinem hieng ich, wie an Herder. Doch blieb ich, meines

31
Wissens, frey in meinem Urtheil. Ich kam auf Punkte, die mir weite Aussicht

32
gaben, und trug nun geheime Zweifel in mir umher. Jezt kam ich in hiesige

33
Gegend, nach Barmen und unterrichtete zwey Jahre lang vier

34
liebenswürdige Kinder eines Kaufmanns. Eine kleine Schrift machte Jacobi

35
begierig, mich zu sehen. Er würdigte mich seiner Liebe. Ich wurde krank, und er

36
ließ mir keine Ruhe, bis ich zu ihm zog, um meiner sehr geschwächten

37
Gesundheit zu pflegen. Durch ihn lernte ich Spinoza kennen. Durch wie viel

S. 456
Kampf, durch wie viel Aufwand von Kräften habe ich endlich – die

2
Philosophie und die lose Lehre derselben unter die Füße gebracht! Das unbändige

3
Roß geht jezt sachter an der Hand des kränkelnden Jünglings, und das

4
Evang. allein ist mein Trost.

5
Die Resultate sind ein Werk zweyer Monate, und niemand kann lebhafter

6
fühlen als ich, wie viel ihnen mangelt. Ihr dritter Theil war eigentlich mein

7
Zwek, aber als
ich
mich ihm näherte, war ich ermattet, und ich mußte eilen,

8
um rasten zu können. Noch fühle ich die Nachwehen der unterdrükten

9
Leidenschaft, mit welcher Sie geschrieben sind.

10
Sie sehen, V.H., wie sehr ich Sie liebe, wie ich mich Ihnen vertraue. Nur

11
sehr wenige kennen meinen Namen, und auch Sie muß ich bitten, sehr

12
vor
s
ichtigen Gebrauch davon zu machen.
Sie
sollten mich namentlich

13
kennen lernen, das war eine meiner liebsten Aussichten und Hofnungen,

14
während daß ich die Resultate schrieb. Schenken Sie mir Ihre Liebe! – Ich

15
umarme Sie mit dem kindlichsten, liebevollesten Herzen.

16
Thomas Wizenmann.

Provenienz

Druck ZH nach dem überlieferten Typoskript Walther Ziesemers. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], III 39.

Zusatz ZH: Korrigiert nach der Abschrift von Hamanns Sohn Johann Michael, mit Nachschrift von Hamann.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 265 f.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 372 f.

ZH VI 454–456, Nr. 990.