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Kgsb. den 12 Jul. 86.
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Liebwerthester Freund,
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Mein Sohn kam heute vom Kaufmann zu Hause, und sagte, daß keine
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Einl. für mich wäre. Ich wurde darüber sehr niedergeschlagen, machte mich
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aber auf das ärgste gefaßt, nahm mir aber vor Ihnen nicht eher wider zu
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schreiben, bis ich das versprochene Urtheil über die Resultate einem Briefe
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beylegen konnte. – Eine halbe Stunde nachher erhielte durch meine Tochter
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eine Einlage, die ihr ein Bote abgegeben. Ich war so voller Freuden, daß ich
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meinen zurückgehaltenen Brief vom 22
pr.
hervorsuchte, und die leer
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gebliebene Seite des Papiers vollkritzelte. Eben war ich beschäftigt einen Brief zu
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beantworten in einer mir sehr beschwerlich und sauer gewordenen
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Angelegenheit, die ich nunmehr glaube abgemacht zu haben. Sie betraff ein
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Misverständnis von Freundschaft und hatte in alle meine Empfindungen und
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Begriffe über diesen Gegenstand Einfluß, der vielleicht durch meine
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hypochondrische Nebel vergrößert wurde. Mein Herz muste sich also natürl. auch
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an meinen Freund in London deshalb erleichtern. Ich halte es aber für
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vernünftiger u. anständiger ihn mit allen den Kleinigkeiten zu verschonen, weil
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sie ihn dort stöhren könnten – Das gantze Blatt bleibt also zurück, und soll
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ihm nicht vorenthalten werden, bey seiner glückl. Heimkunft. Alles übrige
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war von keinem Belange – – Ich freue mich herzlich auch über Ihre
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sorgfältige Genauigkeit mir mitzutheilen, was ich zu wißen nöthig habe. Mein
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Nachbar, Freund und Artzt, HE Miltz, fand mich auch ungewöhnlich heiter;
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ich bin gestern und heute zu Hause geblieben und fahre im Gebrauch der
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Kämpfschen
Species
fort von oben – bin aber noch immer entschloßen, so
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bald ich keinen Reitz von unten mehr fühle, wider auf dem Wege einen
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Versuch zu machen um wenigstens zu wißen, ob die Schmerzen von der güldnen
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Ader oder durch eine zufällige Verletzung entstanden sind.
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Kant hat auch vorgestern den Anfang mit den Kämpfschen Mitteln
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machen wollen, klagte mir aber gleichfalls seine Noth – und ich werde ihn
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ehstens aufsuchen, welches ich desto nöthiger habe, weil ich erfuhr, daß er
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etwas für die Berl. Monatsschrift arbeitet über das Mendelssohnsche
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Orientiren
. Er mag so verschieden denken als er wolle, so hoffe ich und
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bin gewiß, daß unser Freund und sein Apologist mit seinem Ton zufrieden
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seyn werden. Ich glaube kaum, daß es vor den
Sept.
eingerückt werden wird.
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Den rasenden Innhalt und Aufzug gegen den alten Hierophanten Stark
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werden Sie am besten selbst nach London melden können. Jedermann ist
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neugierig nach dem Ausgange. Ich nehme von
beyden Seiten
Antheil.
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Der Unfug meines gewesenen Beichtvaters ist unverantwortlich; aber der
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Berl. Kützel und Uebermuth muß jeden Bidermann auch unausstehlich seyn.
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Es ist mir also nicht gleichgiltig, diese Saite auch schon berührt zu haben – –
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Nun fehlt mir noch zu meiner Beruhigung eine gute Nachricht aus
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Münster
, daß dort auch alles nach Wunsch überstanden ist, damit meine
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Freude und Ruhe zur Arbeit vollkommen sey.
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Ohne den 4ten Bogen kann ich nicht vom Fleck kommen. Liegt die Schuld
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am zweyten, so ist selbiger gleich den 22
pr.
zurückbefördert worden, und
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dieser Stein wird gehoben seyn. Ich bin irre geführt worden, und in diesem
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vierten Bogen muß die gantze Maschine eine andere Wendung bekommen.
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Die Abschrift der 6ten Fortsetzung war mir ziemlich entbehrlich. Aber im
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vierten Bogen liegt die
Crisis,
von der Fortgang u Ende abhängt. Ich
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begreife weder wie ich selbst, noch meine Freunde mir das unsinnige Geschwätze
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haben durch die Finger sehen können. Nun schick ich nicht eher, bis ich zu Ende
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und fertig bin, und muß schlechterdings übersehen können, was ich bisher
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geschrieben, den ganzen Zusammenhang übersehen, um mich so gut wie
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möglich in eine andere Lage versetzen zu können. Sollte am vierten Bogen noch
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etwas fehlen, so muß ich schlechterdings eine Copey von dem haben was nicht
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auf der sechsten Fortsetzung steht. Wenn die
Quarantaine
noch länger währt;
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so verraucht mir alles was ich im Kopf gehabt
habe
Nun ist noch die Frage:
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ob der vierte Bogen füglich wird so lange stehen können, bis ich zu Ende bin?
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Ihre Antwort wird mich hierüber bestimmen. Erholt sich meine Gesundheit:
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so denk ich geschwinder arbeiten zu können. Ich kann schlechterdings nicht
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eilen: es ist der gröste Vortheil für mich und meinen Endzweck der letzte zu
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seyn, und das zu erndten, woran andere gearbeitet haben. Wenn Kant und
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Kraus was zu sagen haben, wie es mir von beyden scheint: so habe ich desto
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mehr Beruff, mir Zeit zu laßen, und beiden, deren Mühe weder für die Sache
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selbst noch meine Nachlese verloren seyn wird. Kennen Sie schon
Abels
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Seelenlehre? Ich sympathisire ziemlich mit diesem Mann, der ein starker
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Nebenbuler des Kant ist. Sein Versuch über den Ursprung der
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Vorstellungen ist schon in dem ersten beynahe enthalten.
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Der junge Graf Kayserling besuchte mich, voll von den Resultaten, die
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er eben gelesen hatte. Darauf kam Kraus, welcher den 4 CorrecturBogen zu
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finden glaubte. Ich zweifele, daß er ohne besondere Veranlaßung sich in die
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Sache mischen wird. Kant scheint jetzt desto rüstiger zu seyn; so entfernt er
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ehmals vom Schreiben war.
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So bald ich nur den vierten Bogen und die Lücke bis zur 6
ten
Fortsetzung
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erhalte, will ich alle meine Kräfte aufbieten, meinen Plan in ein beßer
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Geschick zu bringen. Alles was Sie zu erinnern finden, wird mir ein Beweis
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Ihrer Güte und Zutrauens seyn. Aber soviel ich mich erinnern kann, taugt
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die gegenwärtige Anlage nichts, und ich muß schlechterdings den geradesten,
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kürzesten Weg zur Sache einzuschlagen suchen und alle bisherige Winkelzüge,
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in die ich mehr aus Instinct als aus Ueberlegung mich verloren habe,
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vermeiden. Das
Corpus delicti
fehlt mir um meine begangene Fehler
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beurtheilen und verbeßern zu können – und ich mag die gedruckte 3 Bogen nicht eher
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ansehen, bis ich den letzten erhalten, und alles was etwa noch fehlen möchte
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bis zur Abschrift der 6ten Fortsetzung.
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Der ganze Entwurf ist so einfach wie möglich, und beruht auf 3 oder 4
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Puncte. Golgotha u Schiblemini, als der wahre Innhalt meiner ganzen
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Autorschaft, die nichts als ein
evangelisches Lutherthum
in petto
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hat. Daraus folgt ein gantz entgegengesetzter Gesichtspunct von dem
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gegenwärtigen Zetergeschrey über Katholicismum. Dies ist ein Hauptstück,
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worüber ich mich gern so
erweichend
wie mögl. und ohne
Beitze
noch Lauge,
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aber mit desto mehr Nachdruck und Deutlichkeit erklären möchte.
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Das
II.
ist über den Vorwurf des
atheistischen Fanatismi
S. 71
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den ich dem M. gemacht u der durch seine
Morgenstunden
nicht
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widerlegt sondern bekräftigt worden. Man hat mir diese Anklage in Berl. sehr
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übelgenommen.
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Das letzte betrifft die Pfuy! Pfuy! meiner Zöllnerschaft und Brüder nach
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dem Fleisch S. 25 die Niemand ohne einen Schlüßel verstehen kann. Ich
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citi
re die Stelle meiner letzten Schrift Golg. u Schibl.
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Der 2te CorrecturBogen ist den 22
pr.
gleich mit umgehender Post von
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mir
remitti
rt worden nebst den beyden Briefen des Lav. aber die Antwort
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behielt ich zurück, nebst der heutigen Fortsetzung. Beyde sollen zu ihrer Zeit
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übermacht werden, wenn unser Freund wider heim u in Ruhe seyn wird.
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Findt sich etwas wichtiges ihm unmittelbar zu melden; so werde gl. eine
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Ausnahme von meiner Regel machen und eine kleine Einl. nach Engl.
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beylegen. Ich bin in einer
natürl. Verlegenheit
durch irgend eine dritte
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Hand mit der zweyten Person vertraulich zu seyn, und habe keinen
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dringenden Anlaß diese Grille zu überwinden u zu verleugnen.
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Mein unbescheidener Auftrag wegen
Swedenborgs arcana Coelestia
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bezieht sich bloß auf den
Fall
, daß
Gelegenheit
sich dazu darbietet; meine
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Verwickelung mit dem Freunde, dem damit ein großer Gefallen geschah, war
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an dieser Uebereilung schuld. Ich habe gnug Kummer deshalb gehabt, und
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meine heutige Erklärung wird der ganzen Sache wie ich hoffe ein gutes Ende
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geben. Ist unser Freund im stande hierinn dienstfertig zu seyn; so wird er es
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von selbst thun, und geschieht beyden ein Gefallen. Aber nicht die geringste
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Unruhe oder Zerstreuung bey seinem kurzen Aufenthalt soll ihm dadurch
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zugemuthet seyn. Ich habe mich auch darüber schon in dem heutigen
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zurückgehaltnen Briefe
pro futuro
erklärt und entschuldigt. Erfreuen Sie mich
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bald mit mehr guten Nachrichten aus Engl. und
womögl.
aus Ihrer
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Nachbarschaft. Nun schreib ich kaum eher als ich das verlangte über die
Resultate
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mitschicke oder den Empfang des 4. Bogens bescheinigen kann. Gott sey mit
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Ihnen und schenke Ihnen Gedult und Nachsicht
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gegen einen alten kranken Grillenfänger
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der sich u seinen Freunden zur Plage lebt. JGH.
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Adresse mit rotem Lacksiegelrest:
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HErrn / HErrn Geheimen Rath
Jacobi
/ zu /
Düßeldorf
.
f
o
Wesel
.
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 65.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 261.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 298–301.
ZH VI 464–467, Nr. 993.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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465/30 |
habe ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: habe. |
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467/17 |
womögl. ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: wo mögl. |
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467/24 |
f o Wesel . ]
|
Hinzugefügt nach der Abschrift Wardas. |