994
467/25
Kgsb. den 12
Jul.
86.

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Mein alter lieber Freund und Landsmann,

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Ich habe den 6 d. Ihr Schreiben vom 20
Jun.
erhalten, bin aber nicht im

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stande gewesen eher darauf zu antworten, nicht aus Mangel des Entschlußes,

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der bereits den Tag nach Ihrer Abreise gefaßt war, und durch die

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Ueberlegungen der mir dazu genommenen Zeit nicht geändert worden, sondern

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wegen meiner elenden Gesundheitsumstände, die auf meinen Kopf und meine

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Gedanken außerordentlichen Einfluß haben, ist es mir unmögl. gewesen zu

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schreiben. Nicht
Delicatesse
zu nehmen
, was mir gegeben wird –

S. 468
denn daß ich garnichts davon in mir fühle, davon habe ich Ihnen Beweise

2
gnug gegeben: sondern meine
Selbsterkenntnis
, die so schwach auch

3
selbige seyn mag doch immer der Maasstab seyn muß, nach dem ich meinen

4
Nächsten beurtheilen und mein Verhalten gegen ihn, vor meiner
Vernunft

5
so wol als meinem Gewißen rechtfertigen muß, meine traurige

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Selbsterkenntnis verbietet mir schlechterdings die meinem Kinde zugedachte

7
Wohlthaten anzunehmen und davon für sie und mich Gebrauch zu machen. Ihr

8
guter Wille
bleibt in Gottes Augen und auf meiner Rechnung für die

9
That. Ich erkenne den Werth deßelben, aber um diesen
guten Willen
in

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Ihnen und für mich zu erhalten, kann ich zur Ausführung deßelben mein Ja!

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nicht geben. Von den Verbindlichkeiten, die Sie mir schuldig zu seyn

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vorgaben, weiß ich kein lebendiges Wort; aber die meinigen gegen Sie sind desto

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tiefer in mein Gemüth eingegraben. Unsere Grundsätze sind so heterogen und

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ungleich artig
, als unser Stand. Sie ein thätiger Kaufmann; ich der

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unthätigste Grillenfänger. Wir können also bey aller unserer gegenseitigen

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Freundschaft uns in kein gemeinschaftliches Joch von Intereße
und

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Handlungen
einspannen laßen, ohne einen unaufhörlichen Widerspruch
zum

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vorauszusehen, der unsern Gesinnungen nachtheilig seyn würde. Ich denke

19
von Erziehung und von Geldsachen, wie von allen
Mitteln
zu theoretisch;

20
Sie
müßen
darinn practischer, (und können es zum Theil) zu Werk gehen.

21
Meine Grundsätze über den
einen
Punct auszukramen, lohnt der Mühe

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nicht: weil sie zu Ihrer Anwendung nichts taugen können; und weil wie in

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allem, auch hierin, jeder seines
eigenen Glaubens
leben muß. So

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ungleich der Fall zwischen Ihnen u meinem ersten Wohlthäter in M. ist:

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muß ich Ihnen doch aufrichtig sagen, daß ich unter dem Druck seiner

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Wohlthaten gnug leide, und davon so gebeugt werde, daß ich meinen Schultern

27
keine andere
neue
schwerere Bürde auflegen kann, wenn ich der Last nicht

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unterliegen soll. Von einem solchen Gefühl läßt sich kein wahrer bestimmter

29
Begriff
mittheilen. Je dunkler, desto inniger.
Gott mag also für

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mich, die Meinigen u das Meinige sorgen. An diesem

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Kinder –
seys auch Weiberglauben! muß ich mich fest halten
. Ein

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Mistrauen gegen mich selbst, macht mich eben so mistrauisch gegen die ganze

33
Welt; und dies Mistrauen ist eine
fuga vacui,
die mich desto fester an die

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Vorsehung anschlüßt und feßelt, und im eigentlichsten Verstande macht zu

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einem gebundenen Knecht des einzigen HErrn u Vaters der Menschen.

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Gleich den Tag nach Ihrer Abreise, führte mich der Zufall zu Jacobi, der

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mir die Intereßen aufdrung. Dieser kleine Umstand trieb mich noch denselben

S. 469
Tag, mehr aus
Vorsicht
, als
Vorwitz
zur Baroneße. Sie schien eben

2
so ungedultig zu seyn mich zu sehen, als ich es war meine
Vorsicht
bey

3
Zeiten anzubringen. Sie wuste mir weiter
kein Licht
zu geben, als was

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Sie ihr geschrieben hatten, und vertraute mir Ihre Briefe. Dies war das

5
einzige Mittel unser dreyseitiges Misverständnis zu erörtern. – Ich wünschte

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freyl. alle meine Kinder unter Ihrer Aufsicht, ohne ihr deshalb zuzutrauen,

7
daß die Erndte bey allen einschlagen müßte. Ich wünschte mich ebenso sehr

8
nach M. und die meisten haben mir angerathen auf den monathl. Urlaub

9
getrost es zu wagen. Was der
monathl. Urlaub
in der einen Sache ist,

10
das ist in der andern Sache Ihr gemachter Entwurf die
Kosten zur

11
Erziehung
vorzuschießen. Eine solche Annahme kann ich nicht gegen mein

12
häusliches
forum
und noch weniger gegen Ihre Familie verantworten, der

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ich nicht mehr vor Augen kommen könnte. Ist meine älteste Tochter des Guten

14
fähig, das
die
Tante
und Pflegmutter ihr zutraut: so soll sie keine

15
Gesellschafterin, sondern als
Schwester
, als
Tochter
ihre Pflichten erfüllen,

16
um eine gute
Ehfrau
und
Hausmutter
zu werden. Hat sie Talente zu

17
Erzieherinn u Gesellschafterin: so haben Eltern u Geschwister das nächste

18
Recht zum Genuß derselben. Ihre gegenwärtige Lage ist blos der
Grund
,

19
der gelegt wird, und von dem allein sich noch nichts erwarten läßt, der sich

20
erst setzen und der Natur nach nicht beschleunigt, sondern durch
Wartung

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womögl. der nächsten natürl. Mittelspersonen fortgesetzt werden muß; wozu

22
Gott Gnade geben wird ohne misliche und weitsehende Speculationen. Das

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Gute
und
Gerade
sind für mich
Synonima.
Gut zu seyn u Guts zu thun,

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dazu ist der gerade Weg der kürzeste,
und den hoff und wünsch ich zur

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Zeit, ohne zur Rechten noch zur Linken abzuweichen
. Durch

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ein gerades Nein! hoff ich der Liebe, die ich Ihnen u mir schuldig bin, und

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durch diese Liebe zugl. das Gesetz und die Propheten zu erfüllen.

28
Ich habe den 1 d. die Kämpfsche
Visceral-Elixir
angefangen, nach 9

29
schmerzhaften Versuchen selbige
a posteriori
aufgeben müßen, wahrscheinl.

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wegen der Hämorrhoiden, von denen ich in meinem bisherigen Leben noch

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nicht die geringste Spur gehabt – brauche von oben daher die Mittel, und

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habe viel ausgehalten. Heute ist der dritte Posttag, daß ich keine Briefe weder

33
von
Jacobi
noch seinem Unterhändler habe, auch mit Schmerzen auf den

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4ten
Correcturbogen
warte, ohne deßen Empfang ich nicht aus der Stelle

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in meine Arbeit kommen kann, vor der mir die Haare zu Berge stehen. Sie

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können also leicht denken, wie erschrecklich wüste es in meiner Seele aussieht,

37
und von Sorgen sowohl als Krämpfen der Eingeweide u des Gehirns

S. 470
zerrißen werde, daß ich nichts zu thun im stande bin. Gott gebe Ihnen

2
Gesundheit, Seegen u Glück – und laße alles vielfältig zurückwirken zu Ihrem und

3
der Ihrigen Besten, die ich wie der Meinigen im Herzen habe, und deren

4
Erbteil unsere verjährte Freundschaft werden u bleiben mag. – Der
Tante

5
Plan ist älter u natürlicher; sie
hofft
selbigen auszuführen, und ich will Sie

6
hierinn nicht irre machen. Ihren Mutterrechten sollen durch keinen

7
Pflegvater Eingriff geschehen, am wenigsten durch den
natürl
. der in diesem

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Puncte selbst gegen den nächsten u ältesten Freund eifersüchtig ist.

9
Eben jetzt erhalte wider Vermuthen durch einen Boten einen Widerruf der

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traurigen Nachricht, die mir mein Hans brachte, daß kein Brief an mich

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wäre. Er ist Gottlob! glücklich in Engl. angekommen und hat eine ungemein

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angenehme Reise durch Brabant u über See gehabt. – Also diese Unruhe ist

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auch überstanden – Gott gebe daß alle übrige die ich mir selbst leider! mache

14
ein so gutes Ende nehmen.

15
Ich muß aufhören um nicht die Post zu versäumen, und hoffe daß Sie

16
meine herzl. Erklärung aus dem rechten Gesichtspunct ansehen werden, der

17
sich Ihnen schon zeigen wird, gesetzt daß Sie ihn auch in der ersten Wallung

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nicht treffen sollten. Ein für allemal ist es eine Regel für mich: nach der

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Selbstliebe diejenige welche ich meinem Nächsten schuldig bin, wirken zu

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laßen. Wer sich selbst zu nahe tritt, läuft immer die Gefahr eines gleichen

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Mistrittes gegen seinen Nächsten. Als Kaufmann können Sie für eine solche

22
Speculation
für die Erziehung meiner
natürl
. Kinder nicht 1200 fl.

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aufopfern, und ich ein solches Opfer ebensowenig annehmen, ohne mich selbst

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verächtlich zu machen gegen meine eigene Kinder.

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Ich kann meine
Capitalien
nicht festmachen, sondern muß selbige auf

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mehr als einen Fall immer
parat
haben zum Auszahlen – oder Anwenden

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zur Reise.
Vestigia me terrent.
Ich denke nicht wie unser Freund, Gevatter

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und Landsmann. Einen Peltz zu tragen und Ihr Waarenlager und dergl.

29
Freundschaftsdienste hoffe ich noch wie ein ehrl. Mann
liquidi
ren zu können;

30
aber
Capitalien
sind für mich Halssachen – und als Landsmann ist das

31
Timeo Danaos
verzeihlich und nothwendig. Meine
wenige

32
Delicatesse
im Nehmen
, und meine zu ängstl. im Geben macht mir

33
manchen schweren Augenblick, weil ich in beyden Fällen Heucheley in mir

34
vermuthe und nicht rein in meinen
eigenen Augen
bin, die mir lieber u näher

35
sind als des
Publici
Augen. Mit diesem
Argus
kann der
Mercur
bald

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fertig werden. Ich ziehe aber ein cyclopisches gesundes und christl. einfältiges

37
Auge den 1000 der Insecten vor, und habe zu meinem Maulwurfsleben kein

S. 471
scharfes noch weites Gesicht nöthig. Meine Oekonomie hat am
compendio

2
der
Addition
und
Subtraction
gnug, und darinn besteht meine ganze

3
politische Arithmetik, reinen Tisch zu machen.
L’appetit vient et s’en va en

4
mangeant.
Willkommen! und Abschied! wird also beydes von Herzen gehen.

5
Die Reyh wird auch ans Fasten kommen, wie ich jetzt Hunger u Durst oft

6
wider meinen Willen stärker als andere Menschen befriedigen muß, zum

7
Nachtheil meiner moralischen u physischen Gesundheit, die ich dem Geschmack

8
zu Liebe zu oft leider! aus den Augen setze.
Caffé,
Taback, ein Abendtrunk in

9
Bier, der sich kaum auf 2
Bouteill
en erstreckt, woran ich meinen Hausleuten

10
abgebe, und
dann und wann
eine
pica
zum Buch sind die einzigen

11
Schwelgereyen, die ich mir nicht auspredigen kann. Ruhe und Schlaf sind

12
einem alten kranken Mann zu gönnen. Könnt ich nur arbeiten, so würd ich

13
auch mäßiger im Eßen, Trinken, Lesen und Schlafen seyn. –

14
Da ist mein Artzt – Ich schließe und umarme Sie mit dem dankbarsten und

15
ergebensterkenntlichsten
Herzen, das ich eben durch mein

16
aufrichtiges Nein! Ihnen und mir selbst zu erhalten suche. Ihr alter

17
Autor, Landsmann u Freund

18
Johann Georg Hamann.


19
Vermerk von Hartknoch:

20
beantw
d
12
July
1786

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 5.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 317–322.

Heinrich Weber: Neue Hamanniana. München 1905, 156.

ZH VI 467–471, Nr. 994.

Zusätze fremder Hand

471/20
Johann Friedrich Hartknoch

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
468/14
ungleich artig
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
ungleichartig
468/17
zum
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
…?
468/31
Kinder –
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Kinder-
469/34
Correcturbogen
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Correctur bogen
470/5
hofft
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
hoffte