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488/30
Königsberg den 22
Jul.
86.
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Geliebtester Freund,
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Es geht dem Greise nicht beßer als dem kranken Jünglinge – Wie entzückt
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war ich heute vor 8 Tagen über Ihr zuvorkommendes Vertrauen. Zu
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gleicher Zeit erhielte aus Engl. und aus Münster erwünschte Nachrichten,
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auf die ich mit Schmerzen gewartet hatte, wollte den Sonntag drauf alles
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beantworten, und bin erst heute
im stande
Ihnen wenigstens für Ihr gütiges
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Zutrauen zu danken. Es freut mich einen Freund mehr in Pempelfort, den ich
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mir nicht dort vermuthet, zu wißen. Gott schenke uns nur beyden Leben und
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Gesundheit: so werden
wir
uns einander näher kennen lernen, als es durch
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Schreiben und in einer solchen Form möglich ist sich alles im kleinen und
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ganzen mitzutheilen.
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Gegenwärtig bin blos im stande Ihre Aufrichtigkeit zu erwiedern. Den
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12
Junii
erfuhr in den Zeitungen, daß Ihre Resultate angekommen wären.
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Ich lief gl. weil ich keinen Buchladen besuchen mag zu einem Freunde, durch
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den ich alles erhalte, der mir auch vor der Mittagsstunde gl. ein Exemplar
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zuschickte mit der dringendsten Bitte ihm selbiges so bald ich nur könnte,
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wider abzuliefern. Ich eilte also mit einer mir natürl. Hitze die ganze Schrift
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durch, wie ich es mit vielen Büchern thue, wenn es mir vor der Hand nur um
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einen Totaleindruck des Zusammenhanges zu thun ist – Den 7 d. erhielt ich
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die von meinem Freunde mir zugedachten Exempl. habe immer auf eine gute
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Stunde gelauert, woran es mir aber seit langer Zeit gefehlt, bis ich sie endl.
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zum Buchbinder brachte um sie mit desto mehr Beqvemlichkeit lesen zu
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können. Erst heute habe sie selbst abgeholt, um blos die von HE Schenk mir
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angewiesene Stelle S. 184., welche das
Thema
anweist, nachschlagen zu
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können. Unser abwesende Freund drung auf mein Urtheil. Ich versteh nicht
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Spinoza,
nicht
Hemsterhuis,
mich selbst nicht, und suche noch immer mehr
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Licht über den Gesichtspunct, unter dem unser gemeinschaftl. Freund selbige
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angesehen – Wollte also einen kleinen Betrug spielen, zu dem sich ein Freund
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anerbot, deßen Gedanken ich für die meinige bis zur Entwickelung der Sache
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ausgegeben hätte. Da kam das Urtheil der
lateinischen
Zeitung dazwischen
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und verdarb mir auch dieses Spiel. Er hätte wol seine Bedenklichkeiten
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etwas unparteyischer eingekleidet, aber mit dem Ende schien er
au
doch
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etwas unzufrieden zu seyn, und daß Sie zu einem Misverständniße durch
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einen zu
unbestimmten Sprachgebrauch
Anlaß gegeben hätten,
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war auch seine Meinung.
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Ich habe mich jetzt entschließen müßen, Ihre Schrift nicht eher zu lesen,
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bis die Reihe an selbige kommen wird, und ich Ihre nähere Prüfung zu
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meiner eigenen Arbeit nöthig habe. Daß ich auch an der Autorschaft krank
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liege, ist Ihnen kein Geheimnis bey Ihrer gegenwärtigen Lage kann es
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Ihnen die meinige nicht seyn. Ob meine Krankheit zum Tode oder zur
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Genesung ausschlagen wird, wünsch ich zwar auch und hoffe – – Ich bin auf
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eine Höhe gerathen, wo ich Mast und Seegel verloren samt meinem
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Compaß – und nichts als meinen Anker und sein Thau übrig habe. Habe ich
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diesen Schlucken überstanden: so soll mir die Lust zu schreiben vergangen
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seyn auf immer und zeit Lebens.
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Daß Ihre Krankheit durch die Arbeit zugenommen, ist kein Wunder – –
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Ich will mich beßer wahrzunehmen suchen, und mich selbst rein und leer
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ausschreiben, daß keine
materia peccans
zurück und übrig bleiben soll.
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Ich habe diese ganze Woche nach Ihrer ersten Schrift hier allenthalben
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gesucht. Der Titel war mir so auffallend gewesen, daß ich mich deßelben noch
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erinnern konnte. Endlich fand ich eine kurze Recension in einem
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raisonnirenden Bücherverzeichnis, das hier ein paar Jahre herauskam, indem ich
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zufällig mit einem reformirten Prediger aus
Tilsit
speiste, der sich selbst für
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den Verfaßer der Recension bekannte. Dieser Recensent erklärt den Titel
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ihrer ersten Schrift für mystisch graciös, und die darinn vorgetragene
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Hypothese nicht nur für neu, sondern auch äußerst befremdend. Wenn er selbige
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recht gefaßt und verstanden; so wundert es mich, daß Sie Ihre Erstlinge
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nicht
göttl. Erziehung des Satans durch das M. Geschl
.
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genannt haben. Eine Entwickelung zur Beßerung scheint mir Erziehung und
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Cultur zu
seyn
Sie scheinen mir also wie
Pope
aus dem
God damn
einen
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Euphemismum God mend
gemacht zu haben.
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Die Berlinschen Recensenten werden vermuthl. Ihnen auch
Chicane
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wegen des neuesten Titels machen, auf dem Sie sich auch des Worts
φφ
ie in
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einer etwas zu
individuell
en Bedeutung bedient haben. Sie sehen hieraus,
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daß ich freymüthig gnug bin Sie selbst auf meine eigene
Chicanen
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vorzubereiten, so bald ich nur zu einer näheren Prüfung Ihres Buchs Anlaß
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haben werde.
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Wie elend es mit meinem Kopf bestellt ist, werden Sie aus dem Abdruck
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der 3 ersten Bogen urtheilen können. Ich bin mir heute wider aber umsonst
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den vierten vermuthen gewesen, wo sich die Wolken schlechterdings brechen
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müßen. Daß ich in einen gantz falschen Ton und auf lauter Irrwege gerathen
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bin: so viel Selbstgefühl und Selbstkenntnis habe ich noch. Ob es mir aber
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gelingen wird einen ebnern geraderen Weg einzuschlagen – –
adhuc sub
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iudice lis est.
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Kann es mir unser Freund in
Richmont
übelnehmen, wenn ich in einer
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solchen Verwirrung meiner selbst mich enthalte Ihm zu antworten, und von
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mir Nachricht zu geben, da ich nichts Gutes, nichts Gewißes Ihnen schreiben
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kann, sondern wie ein wankend Rohr in der Wüsten vom Winde geweht
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werde, und besorgen muß ihn ohne Noth mit meiner Unruhe und
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Unzufriedenheit anzustecken, der er doch nicht abzuhelfen im stande ist.
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Die Postille Ihres lieben Hahns ist seit dem May 777 mein
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immerwährendes Sonntags und Hausbuch, da ich es von Lavater erhielt. Ihren
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subtilen
Plouquet
v – – Oetinger kenne ich nur dem Ruff und Namen nach,
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auch von Storr besinne mich nicht irgend etwas gelesen zu haben. Wie gern
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möchte ich dem wallfahrenden Evangelisten ein schriftliches Willkommen in
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Deßau zuruffen, wenn ich schreiben könnte; wo ich Häfeli u einen
De
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marées
noch von Angesicht kennen möchte.
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So bald ich nur den Bogen D erhalte, werde ich alle meine Kräfte
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sammeln und versuchen ob es mir möglich seyn wird das eigene
Chaos
meiner
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Gedanken in Ordnung zu bringen, und etwas reineres Licht und gesunderes
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Leben nach überstandenem Taumel mitzutheilen. –
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Durch einen mir selbst unerklärlichen Zufall bin ich hier so im Bloßen, daß
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ich selbst nicht weiß, was ich geschrieben habe, und ohne den vierten Bogen
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nicht vom Fleck kommen kann. Thun Sie das Ihrige, daß unserm Freund
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Schenk die Gedult nicht vergehe. So bald ich nur erst den Faden wider habe,
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soll ich beßer auf meiner Hut seyn.
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Ihr Name und Aufenthalt bleibt bey mir
in petto,
weil mir selbst daran
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gelegen ist, daß nichts durch mich auskomme. Darüber können Sie also ohne
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Sorgen seyn.
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Der Eindruck des Gantzen, den ich bey dem ersten Anblick Ihrer Resultate
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gehabt, ist mir so schmeichelhaft gewesen, daß ich noch mehr bey einer
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näheren Prüfung derselben für mich selbst sowohl als auch zu Ihrer eigenen
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Zufriedenheit zu gewinnen hoffe, so bald es mir möglich werden wird, so weit
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zu kommen. Bey meinem gegenwärtigen Drucke ist meine einzige Arbeit mich
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selbst zu ertragen. Ich zweifele nicht daß unser Freund auch die
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Nothwendigkeit u Schicklichkeit meines Stillschweigens von dieser Seite erkennen wird.
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Leben Sie recht wohl, und nehmen Sie meinen guten Willen Ihre
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Gesinnungen zu erwiedern für die That, deren Mängel ich künftig zu ergänzen suchen
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werde. Gott schenke uns beyden Mäßigkeit und Gedult zu unserer Genesung
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und Ruhe. Wer zu viel Honig ißt, das ist nicht gut, sagt ein erfahrner Weise.
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Ich vermuthe, daß es in Ansehung gewißer Leidenschaften und ihrer darauf
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beruhenden Erkenntnis der Gegenstände, Verschnittene giebt von
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Mutterleibe an, die keines Begriffs noch Sinnes noch ihrer Energie fähig sind, wo
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alle Entwickelung und Cultur verloren ist. Fleisch und Blut kennt keinen
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andern Gott als das Universum, keinen andern Heiland als einen
S. 492
homunculum,
keinen andern Geist als den Buchstaben. Ein
Mensch kann
2
nichts nehmen
,
es
werde ihm denn gegeben
–
3
und wem Ers giebt, der hats umsonst
4
Es mag niemand
ererben
/
Judaismus transcendentalis
5
noch
erwerben
/
Papismus philosophicus,
wie die lateinsche Zeitung
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ganz trefflich sagt
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Durch Werke Seine Gnade
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Die uns errettet vom Sterben / das
ultimum visibile
u
summum bonum
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das uns thätig und unglücklich, oder ruhig und glücklich macht. Durch den
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Baum der Erkenntnis, werden wir der Frucht des Lebens beraubt, und jener
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ist kein
Mittel
zum Genuß dieses letzten
Endzwecks
und
Anfangs
.
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Die Künste der
Schule
und der
Welt
berauschen u blähen mehr, als daß
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sie im stande sind unsern Durst zu löschen und Hunger zu stillen.
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Mündlich, so Gott will, mehr. Ich umarme Sie, und bitte mir Ihre
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Freundschaft zu erhalten, wie Sie der meinigen versichert seyn können.
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Johann Georg Hamann.
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Adresse:
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An / meinen Freund, HErrn
Thomas
Wizenmann
/ in /
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Pempelfort
.
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 68.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 266 f.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 373–378.
ZH VI 488–492, Nr. 999.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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489/2 |
im stande ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: im stande |
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489/26 |
lateinischen ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: lateinschen |
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490/19 |
seyn ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: seyn, |
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492/2 |
es ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: es |
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492/18 |
Thomas |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Thomas |