522
S. 1
Königsberg den 2 Jänner 78.

2
HöchstzuEhrender Herr Capellmeister,

3
Herzlich geliebter Landsmann und Freund,

4
Viel Glück zum
jungen
Sohn
und zum
Neuen Jahr
!!! Das Erste habe

5
Schall der Posaunen
u.a.
Jer 42,14
von Ihrem Herrn Vater erfahren unter dem Schall der Posaunen, wie von

6
Rechtswegen. Zum letzten werd ich
zufällig
veranlaßt, weil mein Vorsatz

7
war es
in petto
zu behalten, und ich besorge, daß Ihnen mein Briefwechsel

8
vereckelt
wohl wegen Hamanns ausführlichen Referaten der Streitereien mit den
Blomschen Erben
gegenüber Reichardt im vergangenen Jahr
vereckelt seyn muß. Bisweilen sind aber die
Impromtus
am besten. Wünsche

9
Gold und Silber … Specereyen
Mt 2,2–11
thun’s freylich nicht; und Gold und Silber hab ich nicht; auch keinen

10
trotzige und verzagte Ding
Jer 17,9
Weyrauch und Myrrhen und Specereyen aus Arabia. Nichts als das trotzige

11
und verzagte Ding, das Gott und kein Freund verschmäht!

12
So ein ruhiges Jahr hab ich noch nicht erlebt als dieses. Das
Omen
dieser

13
feyerlichen Stille ist mir noch ein Räthsel, deßen Deutung ich von der Zeit –

14
pr.
praeterito, vorherigen Monats, vgl.
HKB 519 ( III 391/3 )
(denn Sie versteht die Kunst) erwarte. Seit den 12
pr.
laborire an einem

15
Loge
Hamanns Arbeitsraum am
Licent
, vgl.
HKB 484 ( III 306/18 )
; wohl leicht ironisch-abfällige Bezeichnung (vgl.
Krünitz
, s.v. Loge: „eine Hütte, ein kleiner mit Brettern verschlagener Raum, ein Hundestall, eine Schiffskammer etc. etc. heißt“), ohne Bezug auf Freimaurer- oder Theaterlogen.
gestoßenen Schienbein; ich denke aber künftige Woche in meine Loge zu gehen.

16
Kreutzfeld u Krau
se
s sind die einzigen Menschen, die ich noch in diesen zwey

17
Tagen gesehen; ersteren 2 und letzten 1 mal. Penzel habe den ganzen

18
Christmonath nur 3 mal gesehen; er ist von Kanter ausgezogen, und jedermann ist

19
so neugierig auf die Entwickelung seines Schicksals, wie ich auf seines

20
Charakters – seitdem meine Nachbarinn (
Selma St
ockmar
) seine
prima Donna

21
Clienten
Hamann selbst
geworden. Ich besorge aber, daß es Ihnen nicht beßer mit Ihrem
Client
en

22
förmliche Entscheidung
nicht überliefert, wohl im Zusammenhang der Streitigkeiten mit den Blomschen Erben und seinen Amtsfunktionen als Packhofverwalter; offenbar eine abschlägige Antwort, vgl.
HKB 532 ( IV 25/18 )
; vgl. auch den Entwurf für Hamanns Antwort
HKB 521
gehen wird, als mir mit jenem. Den 27
pr.
erhielt ich eine förmliche

23
pretensions ridicules et inconsequentes
dt. lächerliche und inkonsequente Ansprüche
Entscheidung, die alle meine Klagen und Beschwerden vernichtete und mir
pretensions

24
qui paroissent nullement fondées
dt. die völlig unbegründet erscheinen
ridicules et inconsequentes
,
(welche man zu solchen,
qui paroissent

25
nullement fondées
,
gemildert hatte,) in meinen grauen Bart warf.

26
Weil ich diesen
Lauf der Natur
zum voraus gesehen; so habe ich mir so viel

27
Zeit gelaßen, wie eine junge Frau zu Ihren Sechswochen und war eben so froh

S. 2
Schwangerschaft am Tage Elise entbunden
Hamann bezieht sich hier auf den 19. November (Namenstag der Heiligen Elisabeth von Thüringen), an dem er wohl einen Brief nach Berlin sandte über die Streitsache um den Garten und seine Amtsfunktionen, an dem er lange gearbeitet hatte, vgl.
HKB 519 ( III 391/13 )
. – Von einer „Elise“, die Hamann jüngst den Zugang zum Garten eröffnet habe, schreibt Kreutzfeld auch in seinem
Geburtstagsgedicht auf Hamann von 1777
(im Druck von 1781, S. 12): „Du lebst hier im dumpfigen Gemäuer / Vergnügter, sorgenloser, freyer, / Als im Serail der Sultan; deine Wiese / Ziehst du dem Windsor vor; dem Zürchersee / Den alten Graben; und dem Paradiese, / Das Eva ihrem Mann verschloß, / Hier deinen Garten, den dir jüngst Elise Geöfnet hat, (*) hier lebe frey und groß!“ An dieser Stelle macht Kreutzfeld eine Fußnote zu dem angeblichen Hamann-Text
Leiden und –ana des seel. Pr. Mannah
, mitsamt Seitenverweisen auf einen wohl nur scheinbaren Druck. Herder wird später nach ihm fragen, vgl.
HKB 528 ( IV 19/27 )
.
von meiner Schwangerschaft am Tage Elise entbunden zu seyn. Aber nun

2
Rebecca
1 Mo 25,22
möchte ich beynahe mit der Rebecca sagen: Da mir’s also gehen sollte. – Meine

3
prima Donna und dem Chef …
vmtl.
Friedrich II.
(
s. u.
) und
Carl Peter Morinval
(vgl.
HKB 521 ( III 397/6 )
)
letzte Jahresarbeit ist gewesen, meiner
prima Donna
und dem Chef des

4
Departements zu antworten, indem ich der ersten für ihre Grausamkeit die Hände

5
Apoll dem Horaz an seinem Ohr
Sinn unklar, mglw. im Zusammenhang von
Hor.
carm.
, 4,15,1–4 oder
Verg.
ecl.
, 6,3f.?!?
geküßt, und dem letzten das gethan, was Apoll dem Horaz an seinem Ohr.

6
Ad oculum et unguem
dt. fürs Auge und für die Pfote (etwas sehr deutlich demonstrieren)
Ad oculum et unguem
Wahrheiten und Lügen zu demonstriren ist meine

7
Sache nicht. Bey mir ist von Sturmwinden die Rede, die man sausen hört,

8
ohne selbige anders als an den Wirkungen sehen zu können, und die in den

9
Lüften herrschen, ohne daß man ihre Gestalt, Anfang und Ende mit den Fingern

10
zeigen kann. Alle die Furien des verflossenen Jahres sind also nichts als

11
Unrecht gelitten
1 Kor 6,7f.
Hirngespinste gewesen; anstatt Unrecht gelitten zu haben, hab’ ich selbst Unrecht

12
Hiob
Hi 19,21.
gehabt. „Erbarmt euch mein, erbarmt euch mein, Ihr meine Freunde“. – – Hiob

13
XIX.

14
Ich habe alles Unrecht von meiner Seite gestanden, und mich allem mit

15
Hauptsache
[Henkel: die Verteidigung der Rechte des preußischen Beamten gegen das französische Finanzsystem] zu spekulativ, doch eher die Korruption von Wybrand Blom und Marvilliers; streichen?!?
ganzem Herzen unterworfen, ohne der Hauptsache, die nicht mein, sondern ein

16
gemeinschaftliches Interesse betrifft, etwas zu vergeben.

17
Weder ein ehrlicher noch kluger Mann erniedrigt sich zu Rechtfertigungen,

18
Delationen
verläumderische Anzeigen
geschweige zu Delationen. Ich bekümmere mich um nichts und weiß von nichts.

19
socratischen
nach der
sokratischen
Unwissenheit
Dieß ist die Burg und das Sans-Souci meiner socratischen Philosophie. Je

20
C’est mon goût …
vgl. Bernis’ „Reflexions sur la curiosité, le Goût de la Champagne, l’Amour, de la Gloire et la Médisance“ in:
Réflexions sur les passions et sur les goûts
, S. 109 (über die Arten der Neugierde von schönen Frauen): „A peine laisse-t’il tomber sur moi quelques regards distraits; cette langueur touchante, ce feu intéressant qui remplissoient ses yeux sont-ils épuisés? Ai-je mérite sa froideur en cessant de lui plaire, ou ne me suis-je pas trompée sur le droit que je croyois avoir de le toucher? Mais il n’est pas mon amant, qu’importe qu’il me trouve jolie? Helas! ma gloire, mon repos et le plaisir piquant d’enlever un Amant à ma rivale; tout enfin en dépend, il faut mourir ou ne rien perdre de mes conquêtes.“ (Rohübersetzung ?!?: „Kaum wirft er mir noch einige zerstreute Blicke zu; ist jene rührende Trägheit, jenes interessante Feuer, das seine Augen erfüllte, erschöpft? Habe ich seine Kälte verdient, indem ich aufhörte, ihm zu gefallen, oder habe ich mich über das Recht, ihn zu berühren, geirrt? Aber er ist nicht mein Geliebter, was spielt es für eine Rolle, ob er mich hübsch findet? Ach! Mein Ruhm, meine Ruhe und der reizvolle Genuss, einer Rivalin einen Geliebten zu entreißen; alles hängt letztlich davon ab, ich muss sterben oder nichts von meinen Eroberungen verlieren.“)
weniger ich mir anvertraut weiß, desto glücklicher.
C’est mon goût, ma gloire,

21
mon repos.
Wo es aber auf Rechenschaft ankommt, ist jeder Strohhalm für mich

22
ein Pfahl vom Zaun, und der kleinste Bruch wichtig genug zu einem Revisions-

23
querelle d’Allemand
sinnlose Streiterei
Receß oder
querelle d’Allemand.

24
Nachricht
nicht überliefert; wohl eine Absage Reichardts, sich für Hamanns Streitsache in Berlin weiter einzusetzen
So viel, liebster Freund und Gönner! zu Ihrer Nachricht, wenn Sie noch

25
einigen Antheil an meinem Schicksal nehmen, und mir im Grunde des Herzens

26
wünschen den Triumph einer guten Sache, damit Ihre Arbeit nicht verloren

27
Aloe
Sie dient auch als Heilmittel.
sey, sondern wie die Aloe blühe, und noch köstlichere Frucht bringe.

28
Ich hätte gern länger mit meinem Schreiben gewartet, mußte aber eilen.

29
Mein Zaudern war zugleich ein Werk zur Nachfolge. Stockmar verdient mein

30
ganzes Mitleiden; ich bin der glücklichste Mensch in Vergleich seiner und schaudere

31
dafür, mich an seiner Stelle zu denken. So wenig ein Mann wie er auch

32
wahrer Freundschaft fähig ist, so hat er doch den guten Willen gehabt mein Freund

33
Charakter indelebilis
dt. unzerstörbares Merkmal
zu seyn, und dieß ist in meinen Augen ein Charakter
indelebilis.
Aber mein

34
coquin parvenu
emporgekommener Gauner; gemeint ist
Louis-François Jauduin de Marvilliers
Nachbar zur Linken ist ein
coquin parvenu
und von der
Race,
die nicht
Gott

35
nicht Menschen treu
ist, der nichts wie
chicane
versteht, und deßen
chicane

36
betise
dt. Dummheit
nichts als
betise
ist, ein Schandfleck so wohl als Pest des Dienstes, zehnmal

37
mehr als der
infame
Dieb
Valtier,
der
protegé
des Lumpenhundes
Magnier.

S. 3
prima Donna
wohl
Friedrich II.
Penzels Jesabel
Selma Stockmar
,
Penzels
Geliebte; nach der Frau des Ahab, die ihn zum Götzendienst verführte,
1 Kön 21,25
Meine
prima Donna
(ich meine nicht Penzels Jesabel) hat von diesem

2
machoire … etourdi crevé
etwa: gefährlichen Dummkopf … leichtsinnigen Idioten
machoire
mehr Schande u Nachtheil zu besorgen als von dem
etourdi crevé.

3
respectum parentelae
dt. aus Rücksicht auf die Verwandtschaft
Wenn ich durch meinen Eifer den
respectum parentelae
eines
subordinirt
en

4
aus den Augen setze; so erfülle ich durch diese Uebertretung höhere Pflichten,

5
die ich höheren Verbindlichkeiten schuldig bin und habe seine
eigene

6
Gesinnungen
gegen unsere
gemeinschaftl
.
prima Donna
ausgeholt, und

7
sub vmbra alarum Tuarum
dt. unter dem Schutz deiner Flügel (
Ps 17,8
); mglw. auch eine Anspielung auf den preußischen Adler
bestreite meinen
chicaneur
mit seinen eigenen tummen Waffen –
sub vmbra

8
Fiat voluntas TVA!
dt. dein Wille geschehe! (
Mt 6,10
)
alarum Tuarum
und unter einem gläubigen:
Fiat voluntas TVA!

9
Das allerärgste, was mir widerfahren kann, wäre zu einer Reise nach

10
Berlin gezwungen zu werden, um Ihren kleinen
Prinzen
und meine
beyde

11
Pathen
im heil. römischen Reich in Augenschein zu nehmen. Es geht mir aber,

12
Rabelais zu Lion
Rabelais soll einmal ohne Geld in Lyon gestrandet sein und, um nach Paris zurückzukommen, verbreitet haben, einige mit Asche gefüllte Säcke enthielten Gift für die Ermordung des Königs; er wurde daraufhin auf Staatskosten nach Paris gebracht, wo er die Harmlosigkeit der Asche lüftete und der König ihm verzieh; Hamanns Quelle ist die biographische Einleitung „Particularitez de la vie et moeurs de M. François Rabelais“ in
Rabelais,
Œuvres de Maitre François Rabelais
, Bd. 1, S. xxx–xxxi.
wie meinem Freunde
Rabelais
zu
Lion,
der kein ander
Stratagem
wußte die

13
Kosten der Reise zu ersparen oder aufzubringen, als sich in den Verdacht eines

14
Giftmischers zu
bringen
setzen, und Flockasche für Ratzenpulver

15
auszugeben. –

16
Gott seegne Ihr heiliges Kleeblatt,
Vater
,
Mutter
und
Kind
! Melden

17
Sie mir doch das
Datum
seiner Ankunft
und seinen
Namen
. Grüßen Sie

18
Ihren guten Freund
Engel
! und hiermit nochmals Gott empfohlen!!! Ich

19
ersterbe
ganz
der Ihrige,

20
Johann Georg Hamann.


21
Adresse:

22
Herrn / Herrn Capell Meister Reichard / zu /
Berlin
.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

In den beiden noch vorhandenen Druckbogen-Konvoluten von 1943 fehlt jeweils S. 2 (HKB 522 [IV 2/1–34] „von meiner Schwangerschaft“ bis „coquin parvenu“). Schon Henkel edierte diese nach dem Druck bei Roth; Text auch hier nach Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 270–272.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 268–273.

ZH IV 1–3, Nr. 522.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
1/4
Sohn
]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
Sohn
1/20
prima Donna
]
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH:
prima Donna
1/23
–24
pretensions ridicules […] inconsequentes]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
pretensions ridicules et inconsequentes
1/24
–25
qui […] fondées]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
qui paroissent nullement fondées
3/16
und
]
Geändert nach Druckbogen 1943; ZH:
und