528
17/7
Vermerk von Hamann:
Erhalten den 10 April 778.


8
20. Mz.

9
Endlich, liebster Freund u. Gevatter, komme ich dazu, Ihnen zu melden,

10
daß meine Frau den 12. Febr. mit einem dritten Jungen gesund, bald,

11
mater puerpera
dt. Wöchnerin
glücklich
u.
fast wie
mater puerpera
ohne Schmerzen mein Haus erfreut u.

12
unsre Familie vermehrt hat. Um so mehr taumelten wir für Freude, weil wir

13
uns zuvor viel leidigen Gram, unnöthige Furcht u. dgl. gemacht hatten, da

14
es die erste
Winter
schwangerschaft war, u. anders ging, als sonst; daher wir

15
auch ein Mädchen vermutheten u. uns darauf gerüstet hatten. Der Junge ist

16
mir ähnlicher u. größer, als die 2. andern: ein wahrer Riese, an
Gestalt

17
Kraft und Wille:
Wilh. Ludw. Ernst
genannt, u. Mutter u. Kind befinden sich

18
Herzoginnen
Anna Amalia und Luise von Sachsen-Weimar
wohl. Die beiden Herzoginnen sind in Person Gevattern gewesen, sonst

19
Fürstin v. Statthagen
Charlotte Friederike Amalie Gräfin zu Schaumburg-Lippe (1702–1785)
niemand von hier. Auswärtig der Graf v. Wernigerode, die Fürstin v.

20
Statthagen die uns viel Freundschaft, u.
die
unsre Mutter, Fr. v. Beschefer, in

21
Georg Berens
Georg Berens
; Beilage an ihn nicht überliefert
Bückeburg die uns wahre Mütterlichkeit erwiesen
hat:
meiner
ferner Georg Berens,

22
mein alter lieber Freund, dem ichs mit diesem Briefe jetzt erst melde u.

23
Ferdinand Flachsland
Ferdinand Flachsland
Ferdinand Flachsland meiner Frauen Bruder. Ich weiß, lieber H., Sie schliessen auch

24
jetzt diesen Dritten in Ihre Liebe und in Ihr häusliches Gebet ein, u. wünschen

25
daß es ihm u. uns wohlgehen möge auf Erden. Wir thuns für Sie und die

26
Ihren auch oft u. redlich deßgleichen.

27
Verzeihen Sie, daß ich Ihnen eine so frohe Nachricht so spät melde. Ich

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flog in den ersten Augenblicken, Stunden u. Tagen so oft zu Ihnen, aber

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geistliche Sisyphus Handwerk
als Superintendent in Weimar
eingeklemmet in das einsame Wirrwarr und geistliche Sisyphus Handwerk, in

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dem ich hier lebe, ermattet man an allem u. nimmt zuletzt an sich selbst nicht

31
mehr Theil. Ich habe den Winter einsamer gelebt, als ich in meinem Leben je

32
gelebt
habe:
die
Kirchmauer, die gerade vor mir steht, scheint mir

33
unaufhörlich die wahre Bastille und ich habe von jeher mein Haus,
groß,
und

34
verschnitzelt, unbewohnbar u. wo es
w
bewohnt
wird eingeklemmt und drückend, als das

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wahre Symbol meines Amts angesehen. Unsre erste Sorge war, nur hie u.

S. 18
da Thüren hineinzuschaffen, daß man einen Weg fände, sodann den Abtritt

2
wegzubringen, der mir Bibliothek, Archiv der Superintendentur u. Alles

3
verdarb: weiter ists auch im Amt noch nicht gekommen. Ich hoffe, mich

4
Sommers in andre Zimmer über Garten und Berg hin zu quartieren; wolle Gott,

5
auch in meinen Geschäften, die ich, müde u. ermattet, den Winter über so habe

6
ruhen laßen, daß ich wenn der Frühling anbricht, mit Schauer wieder daran

7
gedenke. Es ist und bleibt doch immer ein elend Leben, sich früh auf die

8
hölzerne Folterbank zu spannen, u. unter dem alten Sächsischen Dreck zu wühlen.

9
Kindern … beherrscht
unter vormundschaftlichen Regierungen
Dies Land von jeher von Kindern u. Schwachen beherrscht u. eine

10
erbärmliche Apanage der Reformation zwischen den Gebürgen – doch gnug deßen!

11
Klaglieder zu schreiben, ist noch zu früh.

12
Wie stehts mit Ihnen, lieber Freund und den Ihren? Haben Sie sich

13
Königl. Pallast
scherzhaft für Hamanns Dienstwohnung am
königlichen Licent in Königsberg
eingerichtet oder so eingeschustert in Ihrem Königl. Pallast? und wie stehn Sie

14
Departement
Hamann teilte Herder zuvor mit, am 19. November 1777 eine Eingabe nach Berlin getan zu haben und eine höfliche Antwort vom „Chef des Departements“ (
Carl Peter Morinval
) erhalten zu haben, vgl.
HKB 519 ( III 391/13 )
; von dem abschlägigen Bescheid und seiner Reaktion berichtet Hamann in
HKB 532 ( IV 25/18 )
.
mit Ihrem Departement? Ist was erfolgt? – Sobald ich Abends mit meinem

15
verbundnen Hausvaterkopf nach Ihrer Façon
nach dem Hamann-Porträt mit den „Eselsohren“, vgl.
HKB 452 ( III 196/12 )
verbundnen Hausvaterkopf nach Ihrer
Façon
umhergehe, sind Sie vor mir, mit

16
Ihren Kleinen. Die Meinen sind wohl, und beide sonderbare Jungen, jeder

17
auf seine Weise, die der Mutter sehr zu schaffen machen, die es aber als treue

18
Wansbecker
Matthias Claudius
, nicht überliefert
Eva trägt. Der Wansbecker hat neulich geschrieben und von einer allgemeinen

19
Zusammenkunft unser Aller mit Weib und Kindern in Wansbeck gedichtet:

20
den Traum beiseit, glaube u. weiß ich, es wird einmal werden. Nur errungen

21
muß es noch werden und so wohl ich, als mein Weib fühlen, daß dies Ringen

22
mir vielleicht nahe ist, obs gleich jetzt noch ringsum die Wolke bedecket. Das

23
incedo per ignes
dt. ich schreite durch Feuergluten (
Hor.
carm.
, 2,1,7)
incedo per ignes
fällt mir ein, so oft ich zum Fenster
hinaus sehe
– – Doch wir

24
fingen dies Jahr so wunderbar ahndend u. kleinmüthig an, und Gott hat uns

25
bisher also beschämet; er kanns u. wirds weiter, Sie und uns, Amen.

26
neue Ausgabe unsres alten Gesangbuchs
wohl
Herder,
Weimarisches Gesang-Buch
; oder aber
Neueingerichtete beständige Sachsen-Weimar-Eisenach- und Jenaische Gesang-Buch
(Weimar: Hoffmann 1778), für das Herder ebenfalls eine Vorrede schrieb, vgl. SWS XXXI, 707–712; vgl. außerdem
HKB 532 ( IV 26/12 )
Ich habe diesen Winter eine neue Ausgabe unsres alten Gesangbuchs

27
Vorrede
Herder,
Weimarisches Gesang-Buch
, SWS XXXI, S. 712–717
corrigi
rt d. i. Druck- u. Schreibfehler geändert u. eine Vorrede vorsetzen müßen,

28
wie gewöhnlich. Wenn es gedruckt ist, will ich Ihnen ein Exemplar schicken.

29
Bußzettel
vgl.
Herder,
Bußtagszettel
vom 14. März und 5. Dezember 1777 in SWS XXXI, 670f.
Dies und die Bußzettel, 2. in einem Jahre, sind bisher
in loco
meine einzige

30
Autorschaft gewesen. Jetzt liegt ein
Ent
Re
scri
pt zum
einem
Entwurf eines

31
Schulmeister Seminarii schon ¼ Jahr in meinem Folio-Kalender, aber

32
noch
res intacta,
bis ich mich ermanne, in das Nest alten Schwalben

33
flickwerks wider Willen zu greifen. – – Auswärtig kam mir das alte Jucken ein

34
in München bei der Akad. der Wiß. über die Frage zu wetteifern „was nutzten

35
Motto Ihres Horaz …
Hamann zitierte Horaz häufig in Motti; das ganze Motto lautet: „Vtcunque defecere mores, / Dedecorant bene nata culpae“ (
Hor.
carm.
, ). – dt.: in dem Maße, wie das sittliche Empfinden schwindet, / zerstören Verfehlungen den Ruhm edel geborener Persönlichkeiten.
die Dichter ehmals? was nutzen sie jetzt?“ und habe mit dem Motto Ihres

36
Horaz
vtcunque defecere mores,
den einhelligen obwohl vielleicht unschwer

37
zu erringenden Preis davongetragen. An Winkelm. habe noch nicht denken

S. 19
können; dafür wird Ihnen aber die Ostermesse ein paar Gerichte alten

2
aufgewärmten Kohls darbringen und meine Frau mit einem Teller Nachtisch

3
ebenfalls aufwarten, zu dem Allen ich denn guten Appetit u. Wohlbekomms zum

4
Geschichte der Gerichte
Herder führt die kulinarische Metapher weiter und kündigt eine Geschichte seiner Arbeiten an.
voraus anwünsche – Die Geschichte der Gerichte kommt sodann hinter her,

5
damit coquus dapifero nicht schade
damit der Koch dem, der die Mahlzeit bringt, nicht schade
damit
coquus dapifero
nicht schade. –
Sonst
habe ich auch die Lust gehabt, mir

6
Codex von sogen. Minnesingern
die Jenaer Liederhandschrift (siehe
hier
), vor allem Sangspruchdichtung enthaltend
den prächtigen Codex von sogen. Minnesingern, den Wiedeburg beschrieben

7
hat, aus Jena kommen zu laßen und zuweilen hinein zu sehen. Ich bin jetzt

8
8ten Dichter
Spervogel
beim 8ten Dichter, habe aber noch kein Minnelied gefunden: sondern es sind

9
Moralische, oder Historische, meistens Satyrische u. Religionsgedichte

10
vermuthlich für einen Prinzen aus diesem Hause (
wo
weil in Wartburg die

11
Akademie war) zur Erziehung zusammengetragen, daher das Minnewesen

12
ausgelaßen und so prächtig geschrieben. Meine hiesige Lage verbietets mir, ganz

13
in den Geist und die Sprache der Zeiten hinein zu dringen, sonst verspräche ich

14
mir davon vieles. – Auch habe ich im Anfange des Winters aus Noth mich

15
Spanisches bewerben müssen
Vgl. den Brief an
Friedrich Johann Justin Bertuch
von Anfang Januar 1778 mit einer Liste spanischer Titel in
HBGA
, Bd. 4, S. 55f.
um etwas Spanisches bewerben müssen und einige Stunden mit Bertuch

16
(der selbst nicht viel kann) gelesen. Künftigen Sommer denke ich mit

17
Jagemann, der ganz ein andrer Mensch ist, als jener, an Dante zu gehen und

18
verspreche mir große Freude. Könnte ich mit meinem Jungen einmal oder ihm

19
vor, zeichnen lernen; so wäre mirs eine Wohlthat meiner alten Tage u. ein

20
neuer Genuß des Lebens. Die Engl. Stunden, die ich vorigen Winter gab, sind

21
diesen Winter weggefallen.

22
Brücke ohne Lehnen
Der projektierte Abschnitt von Hamanns
Schürze von Feigenblättern
, der von einer Formulierung ausging, für deren Urheber er Herder hielt, vgl.
HKB 505 ( III 360/18 )
(was dieser aber bereits verneinte)
Und nun liebster Freund was macht Ihre Brücke ohne Lehnen? Mich durstet

23
so sehr, wieder Einen gedruckten Bogen von Ihnen zu sehen, daß ich darnach

24
wandern möchte. Unterlaßen Sie doch nicht ganz
und
gar, die Geschichte Ihres

25
Geistes und Lebens zu kontinuiren, wenn Ihre Schriftstellerei auch anders

26
nichts wäre. Viel Gruß an alle die Ihren, und Kreuzfeld. Er hat in seinem

27
Begebenheiten des Prof. Ana
Kreutzfeld führt in einer Fußnote zu seinem
Geburtstagsgedicht auf Hamann von 1777
(im Druck von 1781 S. 12) eine Hamann-Schrift mit dem Titel
Leiden und –ana des seel. Pr. Mannah
an (vgl. zu
HKB 522 ( IV 2/1 )
). Hamann tut sie bald als nicht ausgeführtes „Ideal“ ab (vgl.
HKB 536 ( IV 33/17 )
), bald als „Scherz der sich von meinem
Catalog
herrührt“ (
HKB 545 ( IV 57/21 )
); tatsächlich ist bereits in Hamanns
Biga
-Katalog von 1776 (201/17) ein vmtl. fiktives Manuskript unter dem Titel „Leiden und Ana des seeligen Prof. Mannah. Fragment“ angeführt. Ob Hamann jemals ein längeres Manuskript unter dem Titel
Leiden und –ana des seel. Pr. Mannah
verfasste, ist unklar, ein Druck scheint nie existiert zu haben. Zu Herders Quelle für die Kenntnis von Kreutzfelds Gedicht vgl.
HKB 512 ( III 376/12 )
.
Ana
Ein zum Substantiv verselbständigter Plural aus der lateinischen Ableitungssilbe, z.B. Horatiana (Horazisches); auch ironische Bezeichnung für Anekdotensammlungen, vgl. etwa
Saint-Sauveur:
L’esprit des ana, ou De tout un peu
.
Gedicht eine Schrift von Ihnen, die Begebenheiten des Prof. Ana angeführt,

28
die ich nicht
ver
kenne. Vergeßen Sie doch nicht, mich damit zu versorgen.

29
Adieu, Adieu


30
Auf dem unteren Rand der ersten Briefseite:

31
Haben Sie doch die Güte, Inlagen (doch ohne Aus
gab
lage des Porto) auf

32
die Post zu geben.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 160–161.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 282–285.

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 133–136.

ZH IV 17–19, Nr. 528.

Zusätze fremder Hand

17/7
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
17/11
u.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
17/16
Gestalt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Gestalt,
17/21
hat:
meiner
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
hat:
17/32
habe:
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
habe.
17/32
die
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Die
17/33
groß,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
groß
17/34
w
bewohnt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
bewohnt
18/23
hinaus sehe
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
hinaussehe